Warum Darts besser ist als Fußball
(Text vom 15.12.2020; Bildquelle: Michael van Gerwen, 2019-09-08, Foto von Sven Mandel, CC BY-SA 4.0)
Heute Abend startet die Darts-Weltmeisterschaft in London. Und morgen, genau zur ersten Nachmittagssession, tritt der harte Lockdown in Kraft. Nicht ausgeschlossen, dass da der eine oder die andere das Spiel überhaupt erst für sich entdeckt. Irgendwelchen Typen dabei zuschauen, wie sie Pfeile auf eine Scheibe werfen? Wer allenfalls hin und wieder beim Zappen damit in Berührung gekommen ist, wird die Faszination für diesen Sport kaum verstehen… oder ihn gar nicht erst als solchen ansehen. Seit Jahren jedoch beschert die Weltmeisterschaft Sport1 zum Jahresende und -anfang hervorragende Einschaltquoten, mittlerweile hat auch der Streamingdienst DAZN die Rechte erworben. Natürlich ist das Interesse noch sehr weit von König Fußball entfernt, trotzdem gibt es Gründe für die wachsende Popularität von Darts. Ein vielleicht nicht immer ganz fairer Vergleich.
Darts ist variabler und – im Schnitt – spannender
Ja: Es gibt unglaublich spannende Fußball-Spiele, in denen der Außenseiter den haushohen Favoriten schlägt oder ein Rückstand mit einem spektakulären Tor in der allerletzten Minute der Nachspielzeit gedreht wird. Ein Geschehen, das hin und wieder mit dem dämlichen Spruch „Solche Geschichten schreibt nur der Fußball!“ kommentiert wird. Nein, solche Geschichten schreibt nicht nur der Fußball, sondern so ziemlich jeder Sport.
Und es gibt Sportarten, in denen so etwas in höherer Frequenz passiert. Darts gehört dazu. Natürlich gibt es auch hier langweilige und enttäuschende Spiele, aber eben auch viele, in denen es hin und her geht. Durch nur einen Fehlwurf auf ein Doppelfeld kann eine komplette Partie in die andere Richtung kippen. Das liegt auch daran, dass der Modus im Darts variabler ist. Im Fußball ist die starre Festlegung auf 90 Minuten vor allem dann langweilig, wenn der Favorit schon zur Halbzeit mit zwei oder drei Toren führt. Die Darts-WM wird – im Gegensatz zu den meisten anderen Major-Turnieren – im Satz-Modus gespielt, wobei für den Sieg im Finale sieben Sätze gewonnen werden müssen. Ähnlich wie im Tennis kann da ein enges Match schon mehrere Stunden dauern. Die Erst- und Zweitrundenspiele aber gehen über eine weitaus kürzere Distanz, wodurch Überraschungen wesentlich wahrscheinlicher sind. Schon eine kleine Schwächephase des favorisierten Spielers kann sich als fatal erweisen. Im letzten Jahr hat es die Top-Ten-Spieler Rob Cross und Michael Smith erwischt und auch der spätere Weltmeister Peter Wright wäre beinahe in seinem ersten Match an dem ungesetzten Philippiner Noel Malicdem gescheitert.
Darts ist unberechenbarer
Ein Sport ist immer dann langweilig, wenn der Sieger schon vorher feststeht. Wie spannend kann eine Liga sein, in der dieselbe Mannschaft achtmal in Folge mit einem üppigen Punktepolster die Meisterschaft gewinnt? Rechnet man die letzten acht abgelaufenen Spielzeiten zusammen, kommt der FC Bayern München auf gerade mal 24 Niederlagen in 272 Spielen (nicht wenige davon zu einem Zeitpunkt, zu dem die Meisterschaft bereits entschieden war). Das Torverhältnis: 721 zu 190. Dass das absurd ist, hat mittlerweile so ziemlich jeder erkannt, nur wird nichts Wirksames gegen die extreme Ungleichverteilung des Geldes unternommen. Nicht verwunderlich, dass auch die Plätze dahinter sich mehr und mehr zu zementieren scheinen. Und ob nun der VfL Wolfsburg oder die TSG Hoffenheim die Qualifikation für die Europa League schaffen, ist nicht von herausragender Relevanz. Spannung bietet lediglich der Abstiegskampf, wenngleich das fußballerische Niveau meist überschaubar ist.
Lange Jahre war Phil Taylor der FC Bayern München des Darts-Sports, zwischen 1995 und 2002 konnte „The Power“ die WM durchgehend für sich entscheiden. Zwischenzeitlich sah es so aus, als könnte Michael van Gerwen diese Rolle übernehmen. Insbesondere in den Jahren 2015 bis 2017 fegte der Niederländer nahezu jeden Gegner vom Board. In diesem Jahr geriet der Weltranglistenerste allerdings in eine Krise, schaffte es nicht in die Play-Offs der Premier League und scheiterte auch im World Matchplay frühzeitig. Zuletzt zeigte die Formkurve aber wieder nach oben. Schafft es van Gerwen, seinen vierten WM-Sieg einzufahren? Oder kann Peter Wright den Titel verteidigen? Wird der walisische Ex-Rugby-Spieler Gerwyn Price zum ersten Mal triumphieren? Oder doch endlich Michael Smith, das ewige englische Talent? Das Rennen um die Sid Waddell Trophy ist tatsächlich völlig offen, auch ein Außenseiter-Sieg ist nicht ausgeschlossen.
Darts-Spieler sind heterogener und die interessanteren Persönlichkeiten
Die Unberechenbarkeit ist es aber noch nicht allein. Jeder kompetitive Sport ist spannender, wenn man für eine der beiden Seiten mitfiebert. Voraussetzung dafür ist, dass man die Akteure kennt. Sowohl im Fußball als auch im Darts erfordert das Zeit: Man muss sich „einarbeiten“, um zu erfahren, wen man mag und wen man vielleicht weniger mag. Und im Fußball wird es zunehmend schwerer, bestimmte Spieler zu mögen oder auch nicht zu mögen. Sie alle haben mehr oder weniger dieselbe Biografie. Oder vielleicht auch nicht, aber wir erfahren davon jedenfalls nicht viel. Alle sind in jungen Jahren zu Geld und Ruhm gekommen. Und alle haben gelernt, in Interviews die üblichen Floskeln von sich zu geben („Natürlich freue mich über das Tor, aber viel wichtiger ist, dass wir die drei Punkte eingefahren haben“). Nur wenige Fußballer – etwa Christoph Kramer, Mats Hummels oder Thomas Müller – haben gelegentlich interessante oder auch unterhaltsame Dinge zu sagen. Der mediale Fokus liegt verstärkt auf den Trainern: Man hält Freiburgs Christian Streich ein Mikrofon unter die Nase und hofft, dass der vielleicht mal wieder einen kultigen Spruch raushaut.
Selbstverständlich wird kein Sport der Welt wegen der Interviews verfolgt und selbstverständlich sprühen auch die Statements der Darts-Spieler nicht unbedingt vor Kreativität. Aber man hat den Eindruck, dass dort keine Maschinen, sondern echte Menschen befragt werden. Die Aussagen sind authentischer, weitaus weniger glattgebügelt. Gerade Michael van Gerwen ist ein Spieler, dem es an Selbstvertrauen nicht mangelt und der sich gerne auch mal kontrovers oder provokant seinen Gegnern gegenüber äußert. Zuletzt gab es ein kleines Scharmützel mit Peter Wright, der den Weltranglistenersten nicht zu den Haupt-Konkurrenten um den WM-Titel zählte. Das hat van Gerwen natürlich nicht geschmeckt.
Doch auch beim Darts ist es zu einer Professionalisierung gekommen. Das Klischee, dass alle Darts-Spieler bierbäuchige Engländer sind, stimmt längst nicht mehr. Dadurch, dass nicht viel Bewegung gefordert ist, kommt es nicht nur zu großer Heterogenität in den Körperformen, sondern auch hinsichtlich des Alters. Bei der WM treten sowohl der 17-jährige Ire Keane Barry als auch der 66-jährige Singapurer Paul Lim an – eine Spannbreite von fast 50 Jahren. Im Profi-Fußball ist das natürlich nicht möglich, da ist ein 41-Jähriger wie Claudio Pizarro schon ein kleines Wunder.
Und ja, mittlerweile sind auch beim Darts die Top-Spieler Millionäre (insgesamt wird ein Preisgeld von 2,5 Millionen Pfund an die 96 Teilnehmenden ausgeschüttet), aber auch von ihnen haben viele früher bereits einen anderen Beruf ausgeübt. Der Portugiese José de Sousa, der im November überraschend den Grand Slam of Darts gewann, arbeitete bis letztes Jahr noch als Küchenmonteur. Sich voll auf die Darts-Karriere zu konzentrieren, stellt für aufstrebende Talente noch immer ein Risiko dar. Auch die Superstars der Szene sind in ihrem früheren Leben einem normalen Beruf nachgegangen, Phil Taylor hat Toilettenpapierhalterungen zusammengeschraubt, Raymond van Barneveld arbeitete als Postbote, van Gerwen als Fliesenleger. Das ist wohl der große Unterschied zu den Fußballspielern: Sie haben ein Leben außerhalb von Nachwuchsleistungszentren erlebt. Und das merkt man eben in Interviews oder auch in Social-Media-Posts. Der diesmal nicht qualifizierte Darren Webster verkündete nach seinem Ausscheiden bei der letzten WM, für die nächste Zeit wieder als Bauarbeiter zur Verfügung zu stehen. Viele englische Darts-Spieler, etwa Glen Durrant oder Ricky Evans, sind übrigens selbst Fußball-Fans und twittern regelmäßig über das Abschneiden ihrer Lieblingsvereine. Das ist im Zweifel interessanter als die durchkomponierten Posts der Social-Media-Teams von Cristiano Ronaldo & Co.
Die Darts-Welt wird größer, ist aber weniger an Nationen und Regionen gebunden
In der UEFA Champions League hat sich das Geschehen in den K.O.-Runden längst auf die fünf großen Nationen (England, Spanien, Italien, Deutschland und Frankreich) zusammengeschnürt. In den letzten 15 Spielzeiten hat es nur einmal eine Mannschaft ins Halbfinale geschafft, die aus einem anderen Land kommt (Ajax Amsterdam 2018/19). In der abgelaufenen Saison 2019/2020 machten die Top 5 sogar schon ab dem Achtelfinale den Titel unter sich aus. Es sind stets die gleichen Teams, die sich auf höchstem Niveau duellieren. Potenzial für Langeweile.
Im Darts geht die Entwicklung in die andere Richtung. Die meisten Top-Spieler kommen zwar nach wie vor aus Großbritannien oder den Niederlanden (57 der 96 WM-Qualifizierten), die ausrichtende Professional Darts Corporation ist aber bemüht, eine größere Heterogenität herzustellen, indem anderen Ländern bzw. Regionen feste Startplätze zugesichert werden. Bei der nun startenden Weltmeisterschaft werden Spieler aus 29 verschiedenen Nationen teilnehmen – ein neuer Rekord. Die allermeisten dürften sich zwar schon vor Weihnachten verabschieden, im letzten Jahr konnte allerdings der Litauer Darius Labanauskas überraschend bis ins Viertelfinale vorstoßen. In diesem Jahr könnte das neben dem erwähnten José de Sousa (derzeit Platz 14 in der Weltrangliste) auch dem Polen Krzystof Ratajski (15) gelingen. Der Belgier Dimitri van den Bergh (9) zählt sogar zum erweiterten Favoritenkreis, der sympathische Österreicher Mensur Suljovic (20) ist schon seit Längerem dabei, scheiterte bei der WM aber meist früh.
Unter den 96 Teilnehmern sind auch drei Deutsche: Gabriel Clemens, Max Hopp und Nico Kurz. Dennoch kann man hierzulande eine starke Asymmetrie beobachten: Es gibt mittlerweile viele begeisterte Darts-Fans, aber nur verhältnismäßig wenige erfolgreiche Spieler. Das könnte sich in den nächsten Jahren ändern, neben einigen anderen Talenten könnte insbesondere Gabriel Clemens, derzeit Platz 31, in den nächsten Jahren noch weiter in der Weltrangliste nach oben klettern und dem Sport zu noch mehr Popularität verhelfen.
Bislang also mussten sich die deutschen Fans quasi noch selbst ihre Favoriten heraussuchen, um so richtig mitfiebern zu können. Und das war eigentlich auch nicht so tragisch. Vielleicht ist es ja ganz angenehm, dass das Denken in Nationen und Regionen im Darts nicht ganz so stark ausgeprägt ist wie im Fußball. (Dass bei Events in Deutschland die Gegner von Clemens, Hopp & Co. öfter auch mal ausgepfiffen wurden, soll an dieser Stelle trotzdem nicht unerwähnt bleiben.)
In einem anderen Bereich steht der professionelle Darts-Sport erst am Anfang eines langen Weges. Mit Lisa Ashton und Deta Hedman mischen erneut nur zwei Frauen bei der WM mit. So sind Duelle zwischen den Geschlechtern noch immer etwas Besonderes. Der überraschend gute Auftritt von Fallon Sherrock bei der WM 2020 und die damit verbundene Aufmerksamkeit haben sicherlich eine Menge bewirkt. In diesem Jahr wurde erstmals eine zweitägige „Women’s Series“ ausgetragen. Immer noch viel zu wenig, aber zumindest scheint man gewillt, die Versäumnisse der Vergangenheit aufzuholen.
Darts hat eine tolle Fan-Kultur (eigentlich)
Trotz der wachsenden Beliebtheit in Deutschland liegt das Herz, sozusagen das Bulls Eye des Sports nach wie vor in England. Erst seit 2007/2008 findet die WM im Alexandra Palace im Norden Londons statt, trotzdem hat sich der „Ally Pally“ längst zur Kultstätte entwickelt. Man kann nur hoffen, dass die PDC nie auf die Idee kommt, die WM nach Katar zu verlegen. Ein nicht kleiner Teil des Darts-Publikums besteht aus besoffenen, grölenden Fans. Das muss man sicherlich mögen. Diese besoffenen, grölenden Fans wirken aber meist doch angenehmer als die besoffenen, grölenden Fans im Fußball. Die Stimmung ist weniger aggressiv, über allem scheint ein kleines Augenzwinkern zu schweben. Natürlich hat Corona aber auch den Darts-Sport verändert. Zunächst war geplant, 1000 Zuschauer in den Ally Pally zu lassen – immerhin ein knappes Drittel der üblichen Kapazität. Dass das keine so gute Idee war, hat sich kurz vor dem Turnier bestätigt: Ab Mittwoch sind zunächst keine Zuschauer mehr zugelassen. Und das wird sich aller Voraussicht nach auch nach der Weihnachtspause nicht ändern. Nicht wenige befürchten nun, dass die WM ihren Reiz verliert. Die Turniere der vergangenen Monate haben aber gezeigt, dass die Fans zwar fehlen, der Sport prinzipiell aber auch ohne Live-Publikum funktioniert – hier haben wir wohl eine Gemeinsamkeit zum Fußball.
Darts ist anders als Fußball
Ein Unterschied aber wiederum: An nahezu jedem Wochentag kann man mittlerweile ein Fußballspiel verfolgen. Die Darts-WM wird zu einem großen Teil zwischen den Jahren ausgetragen, zu einer Zeit also, in der – zumindest in Deutschland – ausnahmsweise mal kein Fußball läuft. Das Verfolgen der Darts-WM bietet da eine willkommene Abwechslung. Das statische Werfen aus 2,37 Metern Entfernung bildet einen starken Kontrast zum Gewusel der über den Rasen spurtenden Spieler. Obwohl Fußball ein taktisch komplexer Sport ist, wird mitunter erstaunlich schnell, teils schon nach zwei Niederlagen in Folge, die Mentalitätsfrage gestellt: Man hat es halt nicht genug gewollt, nicht genug gekämpft. Oder gegen den Trainer gespielt. Darts hingegen ist tatsächlich fast nur Kopfsache, viel zu taktieren gibt es nicht. Äußere Faktoren spielen kaum eine Rolle, es gibt niemand anderen, dem man die Schuld zuschustern kann, wenn man verliert. Es ist ein Eins gegen Eins, wie man das im Fußball nur vom Elfmeterschießen kennt. Gerade diese Einfachheit macht einen großen Teil des Reizes am Darts aus.
Trotz allem: Nicht jedes Spiel ist hochspannend und bei Bedarf kann man sich auch einfach aufs Sofa werfen und sich ein bisschen berieseln lassen. Keine so schlechte Alternative für die wegfallenden Treffen mit Verwandten und Freunden. Ein Tipp dabei: Die Marotten der Spieler beobachten. Da wäre zum Beispiel Adrian Lewis, dessen Mund sich bei der Wurfbewegung langsam öffnet. Rob Cross, der sich vor einem wichtigen Wurf den Schweiß an der Hose abwischt. Oder eben Michael van Gerwen, der sich die Socken nach oben zieht, wenn es mal nicht läuft und er sich „resetten“ muss.
Resetten – das müssen sich viele zwischen den Jahren, auch oder gerade nach diesem. Vielleicht ja sogar, indem man Typen dabei zuschaut, wie sie Pfeile auf eine Scheibe werfen?
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