Ein Herz für Jogginghosen – Manuel Schumann

Warum Sprache?

Sprache ist.

Was mich an Sprache fasziniert.

Vorab: Was ich hier aufgeschrieben habe, ist nicht wirklich neu. Eigentlich habe ich mit dem Text begonnen, um meine eigenen Gedanken zu sortieren. Wer das Folgende also für banal hält, hat vielleicht nicht ganz unrecht. Trotzdem glaube ich, dass es manchmal nicht schadet, einen Schritt zurückzugehen und sich in Erinnerung zu rufen, warum man das, was man macht, eigentlich so gerne macht. Und wer das Folgende für ein bisschen pathetisch hält, hat definitiv recht (hiermit habe ich Sie gewarnt!). Es ist also kein wissenschaftlicher, sondern ein persönlicher Text. Wenn dabei aber rüberkommen sollte, warum ich es für relevant halte, sich mit Sprache zu beschäftigen, freue ich mich (wer mir eine Rückmeldung dazu geben möchte, kann das sehr gerne tun). Denn ich habe den Eindruck, dass leider viele diese Relevanz nicht sehen. Und manchmal denke ich, dass sich Leute, die sich in welcher Weise auch immer mit Sprache beschäftigen, ihre Profession viel stärker verteidigen sollten. Also:


Sprache ist …

… eng mit unserem Denken verknüpft

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Dies schrieb der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein in seinem „Tractatus logico-philosophicus“. Unser Denken ist immer an Begriffe geknüpft. In der Sprachwissenschaft besteht zwar Uneinigkeit darüber, inwieweit Sprache unser Denken determiniert, kaum jemand würde aber bestreiten, dass beides eng miteinander verwoben ist… dass unsere Sprache darüber mitbestimmt, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen.


… somit auch Ausdruck unserer Kultur und Gesellschaft

Mit Sprache kann sich nicht nur jeder individuell ausdrücken (dazu am Ende mehr), sondern sie ist natürlich auch gesellschaftlich geprägt. Sie ist ein Gemeinschaftsprodukt, das schon vor meiner Geburt da war, deshalb muss ich mich zwangsläufig an dem Bestehenden orientieren. Sich mit Sprache zu beschäftigen, ist also allein deshalb notwendig, weil wir damit unsere eigene Kultur reflektieren.

Dazu ein sehr schönes Zitat aus einem Interview mit dem britischen Schriftsteller John le Carré (eine ähnliche Formulierungen hat er in dieser ebenfalls sehr schönen Rede gebraucht):

Dieses Zitat bezieht sich zwar auf das Erlernen von Fremdsprachen, ich denke aber, man kann es allgemein auf Sprache bzw. die Reflexion über Sprache übertragen.


… Macht

Und dieses Nachdenken über unsere Sprache ist wichtig. Es zählt zu den grundlegenden Aufgaben eines Deutschlehrers, das sprachliche Ausdrucksrepertoire bei den Schülerinnen und Schülern zu erweitern und zu schärfen. Denn dadurch, dass wir mit Sprache an der Gesellschaft partizipieren, können wir diese verändern. Es ist meist schwer, den Einfluss von Sprache genau zu bestimmen, weil da natürlich noch viele andere Faktoren eine Rolle spielen. Als relativ sicher gilt beispielsweise, dass die großartige Rede „Niemals Gewalt!“, die Astrid Lindgren 1978 in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat, maßgeblich zu einem gesellschaftlichen Umdenken beitrug (und in vielen Ländern führte dies dazu, dass Gesetze zur gewaltfreien Kindererziehung erlassen wurden).

Aber es gibt natürlich nicht nur positive Beispiele, man darf Sprache auch wieder nicht romantisieren. Sie kann auch hässlich sein. Da genügt ein Blick in die dunkelste deutsche Geschichte und euphemistische Begriffe wie „Konzentrationslager“ oder „Endlösung der Judenfrage“. Ich hätte aber auch ganz alltägliche Beispiele nennen können. Wir alle können mit Sprache manipulieren. Und tun es. Manchmal vielleicht auch unbewusst. Wir können Sachverhalte verschleiern oder aufbauschen und so die Realität vielleicht nicht gänzlich verfälschen, aber doch verzerren… und so eine neue Realität erschaffen. Wenn wir sprechen, handeln wir. Ich glaube zum Beispiel, dass es einen Unterschied macht, ob wir von „Klimawandel“ oder „Klimakatastrophe“ sprechen. Klar, dass kann man leicht als Intellektuellen-Gewäsch abtun und mit „Wichtig ist doch in erster Linie die Sache an sich, nicht das Wort“ entgegnen, aber ich glaube, dass man das gar nicht so leicht trennen kann, weil das Wort unser Denken über den Sachverhalt beeinflusst.

Ich selbst versuche in diesem Text ja, Sie – ja, genau SIE! – davon zu überzeugen, dass Sprache faszinierend ist und möchte das rhetorisch möglichst wohlformuliert tun.


… komplex, weil „menschengemacht“

Mühselig für die Lernenden, harte Arbeit für die Lehrenden. Während viele den Sinn des Fremdsprachenlernens unmittelbar einsehen (wobei hier oft nur der wirtschaftliche Nutzen betrachtet wird), ist das bei der Beschäftigung mit der eigenen Muttersprache leider nicht immer der Fall. „Ich kann doch meine Muttersprache, womit muss ich mich dann noch mit ihr beschäftigen?!?“ Tja, weil man zwischen Anwendungswissen und Regelwissen unterscheiden muss und dieses Regelwissen, das weiß ich aus eigener Erfahrung, selbst bei frischen Abiturienten meist kaum vorhanden ist. (Es ist es sogar oft so, dass L2-Deutschlernende mehr Regelwissen haben als MuttersprachlerInnen.) Wenn man aber Wissen über Sprache weitergeben möchte, muss man dieses erst mal besitzen. In der Linguistik verhält es sich natürlich so, wie in vermutlich allen Wissenschaftsdisziplinen: Ein wirklicher Experte auf seinem Gebiet würde niemals behaupten, „alles“ darüber zu wissen. Das geht schlichtweg nicht. Aber warum ist Sprache so komplex? Weil sie nicht immer logisch, häufig undurchschaubar ist. Und das wiederum liegt daran, dass Sprache „menschengemacht“ ist. Naja, wobei ich das in Anführungszeichen gesetzt habe, weil man Sprache sowohl als natürliches als auch künstliches Produkt sehen kann. Oder, so wie es der Linguist Rudi Keller macht, als etwas Drittes, als ein Phänomen der „unsichtbaren Hand“. Sprachwandel findet in unserer Gesellschaft meist unbewusst statt und ist für den Einzelnen nicht durchschaubar. Wer hat eigentlich damals den dämlichen Spruch „Da brat mir doch einer einen Storch!“ erfunden? Keine Ahnung, irgendwer halt. Ich finde es gerade schön, dass einige Dinge im Unklaren bleiben, dass es nun mal auch Unregelmäßigkeiten, Doppeldeutigkeiten, Ungenauigkeiten gibt. Dass das System eben nicht perfekt ist. Wer möglichst viel Klarheit und immer geltende Gesetze haben möchte, ist in der Naturwissenschaft vermutlich besser aufgehoben. Natürlich ist es das Ziel der Sprachwissenschaft, die für sie unbefriedigende (Nicht-)Erklärung „Das ist einfach so“ so selten wie nur möglich anzubringen. Die Sprachwissenschaft versucht die Sprache in verschiedene Modelle zu drücken. Das ist notwendig, um etwas über sie zu lernen und über sie zu sprechen. Manche dieser Modelle sind gut, manche weniger, aber selbst bei den besseren habe ich oft den Eindruck, dass sich die Sprache an irgendeiner Stelle schwächeren Stelle herauswindet und entschlüpft. Oder plakativ ausgedrückt: Sprachwissenschaft ist der notwendige Versuch, Sprache möglichst adäquat zu beschreiben… der daran aber immer ein Stück weit scheitert und gerade deshalb so interessant ist.


… wirklich komplex!

Wie verdammt komplex Sprache ist, zeigt auch die Tatsache, dass selbst unsere neueste Technik immer wieder an ihr scheitert. Zugegebenermaßen: Die maschinelle Sprachverarbeitung (zum Beispiel die Autokorrektur oder Online-Übersetzer) ist in den letzten Jahren (u. a. durch die Arbeit der Computerlinguistik) immer besser geworden, trotzdem stoßen sie manchmal an ihre Grenzen… wie hier die Google-Bildersuche, die Schwierigkeiten mit der Homonymie des Wortes „Essen“ hat:

Und Literatur produzieren geht wahrscheinlich auch erst mal nicht so schnell. Durch die gesellschaftlichen bzw. ökologischen Veränderungen werden in den nächsten Jahren viele Jobs, die wir heute noch kennen, einfach wegfallen. Sich mit Sprache zu beschäftigen, mit ihr auf welcher Art und Weise auch immer zu arbeiten, das wird jedoch – so mein fester Glaube – weiterhin relevant und nötig bleiben.


… kontextabhängig

Zwei formal identische Aussagen können je nach Situation etwas vollkommen anderes bedeuten. Es ist nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern auch wie, von wem, wann und wo. Und das unmittelbar zuvor oder danach Gesagte kann es in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Es ist wichtig, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass Sprache stets in einem bestimmten Kontext funktioniert, gerade deshalb, weil auch hier Missbrauchspotenzial besteht. (Übrigens in beide Richtungen: Häufig werden einzelne Zitate aus dem Kontext gegriffen, andererseits ist es aber auch eine beliebte und bequeme Verteidigungsstrategie, zu behaupten, man sei ja nur falsch verstanden worden, man habe sich auf etwas anderes bezogen etc.).

Nehmen wir zum Beispiel das Wort „Hallo“. Was bedeutet es? Naja, was soll die Frage, man benutzt es halt als Begrüßung. Wenn man aber genauer darüber nachdenkt, fallen einem noch weitere Bedeutungen ein:

(In der Lehre nutze ich dieses Beispiel, um zu zeigen, wie prosodische Merkmale wie Wortakzent, Intonation oder Lautstärke die Bedeutung beeinflussen können.)

Ich denke, es ist dieses Bewusstmachen des Unbewussten, das mir so viel Freude bereitet.

Und was man an diesem Beispiel auch sieht: Sprache ist…


… variabel und wandlungsfähig

Dieser mir sehr wichtige Punkt folgt eigentlich, genau wie alles andere, schon aus dem Grundgedanken, dass die Sprache in irgendeiner Weise unser Denken und unsere Gesellschaft abbildet und strukturiert. Und unsere Gesellschaft ist vielfältig, folglich ist auch die Sprache vielfältig. Es gibt Tausende verschiedene Sprachen (daraus folgt äußere Mehrsprachigkeit), aber auch innerhalb einzelner Sprachen kommt es zu Variation (und somit zu innerer Mehrsprachigkeit). Und das auf mehreren Ebenen: Wir verändern unsere Sprache situativ, beispielsweise reden wir mit engen Freunden anders als mit unserem Chef. Mit Sprache drücken wir eine soziale Gruppenzugehörigkeit aus, hierunter fallen Soziolekte wie die Jugendsprache, im weiteren Sinne auch Fachsprachen (z. B. „Blinddarmentzündung“ in der Alltagssprache, „Appendizitis“ in der medizinischen Fachsprache). Und natürlich wäre da noch die räumliche Variation. Jeder kennt solche Beispiele wie Brötchen/Semmel/Weck(le)/Schrippe. Nochmal ein ganz eigenes Thema ist die Veränderung von Sprache im zeitlichen Verlauf. Um hier noch einmal auf das „Hallo“-Beispiel zurückzukommen: Ursprünglich wurde das Wort nur benutzt, um einen Fährmann auf sich aufmerksam zu machen. Erst nach der Erfindung des Telefons wurde es als allgemeine Begrüßungsformel verwendet.

Es ist genau dieses Nebeneinander, das so spannend ist. Und ich glaube, dass das fast jeder so empfindet, fast niemand steht der Sprache gleichgültig gegenüber, sie weckt Emotionen in uns. Die Aufgabe von SprachwissenschaftlerInnen besteht aber darin, diese Vielfältigkeit wertfrei herauszuarbeiten. Dialekt und Umgangssprache sind also kein schlechtes Deutsch, auch hier ist der Kontext entscheidend. Wenn ich in einem Gespräch unter Freunden „Dem Peter sein Auto ist ein Schrotthaufen“ sagt, dann ist dann in der gesprochenen Sprache in den meisten Gegenden Deutschlands vollkommen üblich und richtig (siehe obenstehende Karte des allgemein zu empfehlenden Atlas der deutschen Alltagssprache). „Peters Auto ist ein Schrotthaufen“ wäre hier vielleicht sogar unangebracht. Nur wenn ich in einem Deutsch-Aufsatz den Satz „Dem Kafka seine Kurzgeschichte ist spannend“ schreiben würde, wäre es in diesem Kontext unangemessen.

Und was ich hier auf keinen Fall unerwähnt lassen will: GermanistInnen sollten sich klar von dumpfer, unwissenschaftlicher Deutschtümelei, wie sie etwa der „Verein Deutsche Sprache“ größtenteils betreibt, abgrenzen. Wenn englische Wörter ins Deutsche gelangen, ist das für mich erst einmal interessant (auch wenn Entlehnung ein ziemlich normaler Vorgang ist). Und genauso sehe ich es nicht als Zeichen des Sprachverfalls, wenn sich die verbale Sprache heutzutage mehr und mehr mit Emojis verbindet, sondern halte es für einen spannenden Prozess.

Leider ist die öffentliche Wahrnehmung eine andere:

Viele nehmen Sprachwissenschaftler bzw. Germanisten als pedantische „Grammatik-Nazis“ wahr, die nicht anders können, als ihre Mitmenschen oberlehrerhaft zu verbessern. Und ja, ich kann durchaus auch über mich und die Gruppe, zu der ich mich zähle, lachen, aber es ist halt frustrierend, dass sich dieses grundfalsche Klischee-Bild derart hartnäckig in den Köpfen hält, selbst in denen von Studierenden.

Dabei wäre es eigentlich notwendig, für eine Sprachenvielfalt einzutreten:

„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

(Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland)

Natürlich sind auch die anderen hier angesprochenen Dinge sehr, sehr wichtig (wie ich das Grundgesetz überhaupt für eine unserer größten geistigen bzw. sprachlichen Errungenschaften halte). Manchmal habe ich aber den Eindruck, dass die Sprache da so ein bisschen unter den Tisch fällt. Und nein, das heißt nicht, dass man keine Scherze mehr über Dialektsprechende machen sollte. Das wäre furchtbar. Es geht um eine grundsätzliche Sensibilität für die Verschiedenartigkeit von Sprache. Es geht darum, dass es nicht immer nur ein Richtig oder Falsch gibt, sondern sehr häufig auch ein So und Anders. Wie es in vielen Bereichen unseres Lebens vorkommt. Dieses So und Anders als ein solches zu akzeptieren, ist unsere Aufgabe. Und es ist eine schwere Aufgabe, denn ich glaube ehrlich gesagt, dass wir alle zu einem gewissen Grad egoistische Arschlöcher sind, die in erster Linie an sich selbst denken und denen es oft schwerfällt, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, etwas aus einer anderen Perspektive zu sehen, unser eigenes So zu überwinden. Sprache kann uns dabei helfen.


… Ausdruck unseres Selbst

Tja, das wäre eigentlich ein gutes Schlusswort… gewesen. Aber nein, weil auch ich eben zu einem gewissen Grad ein egoistisches Arschloch bin, habe ich doch etwas anderes ans Ende gestellt, was mir vielleicht sogar noch wichtiger ist: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Sprache betrifft die ganze Gesellschaft, aber auch jeden individuell. Mit unserer Sprache drücken wir uns selbst aus, wir können die Welt beschreiben, so wie wir sie wahrnehmen, wir können sie uns aber auch anders denken, als sie momentan ist, indem wir Geschichten erfinden, indem wir mit der Sprache spielen. Oder auch das Spiel der anderen beobachten, denn Sprache ist auch Ausdruck unseres Nicht-Selbst. Jede und jeder hat einen eigenen Idiolekt, also eine ihr oder ihm eigene Sprache. Ich fand es schon immer spannend, die Sprache von anderen zu beobachten, zum Beispiel irgendwelche sprachliche Eigenheiten meiner Lehrer in der Schule: eine wiederkehrende Floskel, ein seltsam ausgesprochenes Wort, eine bestimmte Stimmlage. Ja, so etwas hat keinen unmittelbaren Nutzen. Aber ich denke nicht, dass alles einen unmittelbaren Nutzen haben muss, sondern auch aus sich heraus interessant sein kann. Es ist die Lust an der Sprache an sich, an ihrer Variabilität und Instabilität.

Mit dem, was wir tun, hinterlassen wir etwas in dieser seltsamen Welt. Auch und gerade mit Sprache – insbesondere mit geschriebener, aber auch mit gesprochener – können wir unsere Spuren hinterlassen, unser „Ich war hier“ in den Stein einritzen. Wir können mit Sprache die Zeit austricksen. Sprache ist nicht nur. Sie bleibt.


Oktober 2019


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