Ein Herz für Jogginghosen – Manuel Schumann

Spaltung

Spaltung

Eigentlich führte Tobias Hintermüller ein relativ normales Leben. Oder sagen wir besser, dass er für meine Begriffe ein relativ normales Leben führte, denn darüber, was normal ist, entscheiden letztendlich immer nur die Normalen. Aber ich will da jetzt gar kein so großes Fass aufmachen, sondern das Augenmerk auf das Wörtchen eigentlich richten, das ich nicht ohne Grund an den Anfang dieser Geschichte gestellt habe. Denn seit einiger Zeit machte sich ein Gefühl des allgemeinen Unwohlseins in Tobias Hintermüller breit. Er konnte es nicht genau beschreiben, aber sein Denken wurde mehr und mehr von dem Eindruck bestimmt, als sei irgendetwas in eine unwiederbringliche Schräglage geraten oder, passender noch, als sei irgendeine Verbindung gekappt worden, die ihn von seinem eigenen Selbst abschnitt und ihn auf eine vergebliche Suche nach einem tief verborgenen Zusammenhang führte, den er angesichts seiner inneren Zerrissenheit allenfalls noch erahnen konnte. Ja, es war kompliziert und er verstand es selbst nicht so genau, aber schließlich fühlte er sich dazu veranlasst, einen Arzt zu konsultieren. Er hatte sich schon seine Worte zurechtgelegt, als er im Sprechzimmer des Arztes Platz nahm und damit begann, ihm von seinen Leiden zu erzählen. Der Arzt hörte ihm, so schien es jedenfalls, aufmerksam zu, nickte mehrmals, unterbrach ihn aber nicht, bis er mit seinen Ausführungen geendet hatte.
„Nun“, sagte der Arzt. „Wir werden jetzt einige Tests durchführen, um den möglichen Grund für Ihre Beschwerden zu ermitteln. Sind Sie damit einverstanden, Herr … wie war noch gleich Ihr Name?“
„Tobias Hintermüller“, antwortete Tobias Hintermüller.
Eine kurze, unangenehme Stille erfüllte den Raum.
„Damit haben sich alle weiteren Tests erübrigt“, sagte der Arzt schließlich, während er sich nach vorne beugte und eine betretene Miene aufsetzte. „Es tut mir wirklich sehr leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Sie leiden an einer sehr seltenen Erkrankung. Es handelt sich um das sogenannte Tobias-Hintermüller-Syndrom.“
Tobias Hintermüller musste schlucken. „Ich… ich habe noch nie von dieser Krankheit gehört. Was kann man dagegen tun? Ist sie heilbar?“
„Nun“, sagte der Arzt. „Wir müssen leider davon ausgehen, dass Sie schon sehr lange mit dieser Krankheit infiziert sind, möglicherweise schon seit Ihrer Geburt. Das macht die ganze Sache natürlich kompliziert. Dennoch gibt es wohl zwei Heilmethoden, wenngleich sie noch kaum erforscht sind.“ „Wie lautet die erste Möglichkeit?“
„Nun“, sagte der Arzt, „Die erste Möglichkeit: Sie müssen Ihr bisheriges Leben von Grund auf umkrempeln. Sie müssen jemand anderes sein, naja, jedenfalls müssen Sie aufhören, Tobias Hintermüller zu sein. Das ist eine mühselige Angelegenheit und möglicherweise dauert es Jahre, bis eine vollständige Genesung in Sicht ist.“
„Puh, ja, das klingt ganz schön aufwendig“, stöhnte Tobias Hintermüller. „Wie lautet denn die zweite Möglichkeit?“
„Nun“, sagte der Arzt. „Es gibt in der Tat noch eine weitere Heilmethode.“ Er holte unter seinem Schreibtisch eine Axt hervor. „Ein gezielter und mit gewisser Wucht ausgeführter Schwung in Ihren Schädel müsste ausreichen, um all Ihre Probleme schlagartig vergessen zu machen.“
Tobias Hintermüller zögerte. „Ich weiß nicht so recht, diese Methode erscheint mir etwas unkonventionell. Muss ich mich denn wirklich zwischen diesen beiden Alternativen entscheiden?“
„Nun“, sagte der Arzt. „Natürlich können Sie auch einfach nichts tun und versuchen, mit dem Tobias-Hintermüller-Syndrom zu leben. Ich würde es Ihnen zwar nicht empfehlen, aber es ist zumindest eine Option. Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen.“
Tobias Hintermüller ging die drei Alternativen in seinem Kopf durch und wägte deren Vor- und Nachteile sorgfältig ab. Dennoch konnte er sich zu keiner Entscheidung durchringen, am liebsten hätte er die Verantwortung an jemand anderes abgegeben. Er blickte noch einmal zum Arzt, doch der schaute nur gedankenverloren auf die Axt, die er in seiner Hand hielt. Gab es noch jemand anderes, dem er diese lebenswichtige Entscheidung hätte anvertrauen können? Nach einiger Zeit, als niemand mehr, nicht einmal er selbst, eine Entscheidung erwartet hätte, verkündete er schließlich, mit erstaunlich selbstbewusster Stimme: „Also gut, ich habe mich entschieden.“


Wenn Sie möchten, dass Tobias Hintermüller versucht, ab sofort nicht mehr Tobias Hintermüller zu sein, klicken Sie hier.

Wenn Sie möchten, dass Tobias Hintermüller die Axt-Behandlung wählt, lesen Sie hier weiter.

Wenn Sie möchten, dass Tobias Hintermüller seine Krankheit einfach akzeptiert, sind Sie hier an der richtigen Stelle.

Wenn Sie Geschichten mit alternativen Enden verabscheuen, hören Sie sofort auf zu lesen und zerknüllen Sie dieses Blatt Papier bzw. schließen Sie diese Seite. Ich respektiere Ihre Entscheidung voll und ganz.


Und wenn Sie sich gerade denken „Och, ich lese einfach alle drei Enden“, dann sind Sie nicht nur ein mieser Trickser, sondern auch ein Mörder, denn in diesem Fall wird Tobias Hintermüller langsam und elendiglich zugrunde gehen. Wägen Sie also Ihre Entscheidung gut ab. Und denken Sie daran: Es gibt immer nur eine Realität.



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