Ein Herz für Jogginghosen – Manuel Schumann

Solche Geschichten …

Das Abscheulichste, das die deutsche Sprache momentan zu bieten hat… und was wir dagegen tun können

Folge 56: Solche Geschichten schreibt nur der Fußball

Ist es Ihnen auch schon mal so ergangen, dass Sie ein Fußballspiel verfolgt haben und dann eine der beiden Mannschaften in der Nachspielzeit das alles entscheidende Tor erzielt hat, was den Kommentator dazu veranlasst hat, den Spruch „Solche Geschichten schreibt nur der Fußball“ ins Mikrofon zu brüllen. Nein? Dann haben Sie noch einmal Glück gehabt. Nicht alle sind so glimpflich davongekommen.

Ich hasse „Solche Geschichten schreibt nur der Fußball“.

Zuerst muss ich offenlegen, dass mir die grandiose Bescheuertheit dieses Spruchs erst durch den Sportjournalisten Max-Jacob Ost bewusst geworden ist, der das in seinem Podcast schon öfter angesprochen hat. Vorher hab ich – einfältiger Fußballfan, der ich bin – diesen Spruch ehrlich gesagt nie hinterfragt. Wenn man das aber tut, erkennt man nicht nur, dass er nicht nur strunzdumm, sondern auch extrem unsympathisch ist. Immerhin stellt man damit die ohnehin schon beliebteste Sportart noch einmal über die anderen.

Im Handball dagegen ist es nämlich vollkommen unmöglich, dass kurz vor Schluss noch ein entscheidendes Tor geworfen wird. Auch wer behauptet, dass im Eishockey schon mal ein später Treffer erzielt wurde, ist ein entsetzlicher Verschwörungsmythologe. Und ebenso im Basketball: Es ist noch niemals, ich wiederhole niemals, vorgekommen, dass der Ball quasi mit dem Ablauf der Zeit in den Korb geworfen wurde. Alle dazu im Internet kursierenden Videos sind FAKE. Nein, nein, ich kann euch beruhigen, das Privileg der späten, dramatischen Entscheidungen genießt allein der Fußball.

Genau das ist es nämlich: Eine Art Selbstvergewisserung. „Pff, mit was anderem als Fußball brauchen wir uns nicht zu beschäftigen, wir haben die perfekte Sportart ja bereits gefunden.“ Ich hab ja wirklich nichts gegen liebgewonnene Traditionen, aber in diesem Spruch steckt so viel Bräsigkeit, so viel Unwillen, sich mit etwas Neuem zu beschäftigen, sich mit etwas auseinanderzusetzen, das über den eigenen Horizont hinausgeht. Ein Horizont, der leider nur exakt einmal so groß ist wie ein Fußballfeld.

Die Überheblichkeit beschränkt sich allerdings nicht nur auf die anderen Sportarten, sondern – und das stört mich natürlich besonders – auf das Geschichtenerzählen an sich. Manchmal kommt es sogar vor, dass einer der Spieler oder Verantwortlichen hinterher im Interview so etwas von sich gibt wie: „Also, so ein Drama, das hätte sich ja kein Drehbuchautor besser ausdenken können!“ Ähhh… doch?! Ich behaupte sogar, jeder 08/15-Vorabendkrimi-Schreiberling ist in der Lage, sich so etwas auszudenken. Die sind nämlich sehr gut darin, Sachen zu schreiben, die schon tausende Male vorher in ganz ähnlicher Form passiert sind. Weil das deren Job ist. Vielleicht sollte man da mal einen Austausch machen: Die Drehbuchautoren der „Rosenheim-Cops“ schreiben die Spiele des FC Bayern, wohingegen Uli Hoeneß, Thomas Müller und Joshua Kimmich mit dem 49€-Ticket nach Oberbayern fahren und das Kommissariat aufmischen. Ich glaube, dadurch würden sich beide Angelegenheiten etwas abwechslungsreicher gestalten.

Es ist sogar schon vorgekommen, dass behauptet wurde, das Spiel sei ein richtiger „Krimi“ oder gar „Thriller“ gewesen, den Alfred Hitchcock höchstpersönlich nicht besser hätte inszenieren können. Ja, klar, „Vertigo“, „Psycho“ und andere Filmklassiker, das ist natürlich absoluter Kinderkram. Aber dass irgendein Typ einen Ball kurz vor Ablauf der Zeit in einen Kasten drischt, darauf wäre der olle Alfred natürlich nie gekommen! Das sprengt einfach die menschliche Vorstellungkraft, nur der Fußball kann so viel Fantasie aufbringen. Nein, im Ernst: Ich bin mir sicher, Alfred Hitchcock würde sich im Grabe umdrehen, wenn es ihm denn nicht komplett am skelettierten Arsch vorbeigehen würde, dass irgendein schwitzender Typ, der ganz bestimmt noch nie einen Film von ihm gesehen hat, seine dramaturgischen Fähigkeiten in Frage stellt.

Nicht ohne Eigeninteresse frage ich mich: Wie kommt der Fußball nur auf seine genialen Ideen? Ich stelle mir da immer einen anthropomorphen Fußball vor, also einfach einen cartoonhaft gestalteten Ball mit Gesicht, Händen und Füßen. Er sitzt über einem weißen Blatt Papier mit Stift in der Hand, sichtlich angestrengt darüber grübelnd, welche Geschichte er nur schreiben könnte. Er hat eine Blockade, so groß wie eine 5-Mann-Mauer beim Freistoß. Er befürchtet, nicht an seine großen Erfolge „2:1 in der 91. Minute“ sowie „3:2 in der 94. Minute“ anknüpfen zu können. Doch dann formt sich eine Glühbirne über seinem Kopf: „Ich hab’s!“, ruft er euphorisch. „Zwei Mannschaften treten 90 Minuten lang gegen mich, es ist ein enges, ausgeglichenes Spiel und es sieht schon danach aus, als würde es 0:0 enden. Aber dann, potzblitz, schießt eine der beiden Mannschaften in der 92. Minute doch noch das 1:0 und bricht in Jubel aus! Das ist genial! Solche Geschichten schreibe nur ich!“

Naja, gut, fairerweise muss man aber sagen, dass der Spruch nicht nur angewandt wird, wenn ein später Treffer fällt. Es gibt da etwa noch die Variante, dass ein Spieler gegen seinen Ex-Verein trifft. Ausgerechnet Spieler X macht das Tor, Wahnsinn. Solche Geschichten schreibt nur der Fußball. Das funktioniert natürlich nur, wenn man so tut, als würden die Spieler nicht ständig die Vereine wechseln. Meistens jubelt übrigens der Spieler dann nur sehr verhalten oder gar nicht, weil bei dem anderen Verein hat er ja mal eine halbe Saison gekickt und er ist ja noch sooo mit den Fans verbunden. (Aber jetzt halt auch nicht sooooo sehr, dass er nicht für ein paar Mark mehr Gehalt zu einem anderen Verein gewechselt ist.)

Wie dem auch sei, in allen Varianten ist der Spruch eine Beleidigung für alle, die Wert auf eine halbwegs gute Geschichte legen. Andererseits könnte man sagen, dass der Spruch eigentlich wunderbar zu dieser immer künstlicheren, mehr und mehr durchkapitalisierten, geschmacklosen Sportart passt. Wobei es nicht der Sport an sich ist, sondern das Drumherum. Die Spieler, die nach zahllosen Medientrainings wie Zombies Sprüche wie „Ich bin froh, dass ich der Mannschaft helfen konnte“, „Wir haben nicht konsequent genug verteidigt!“ oder „Wir denken von Spiel zu Spiel“ ins Mikrofon rotzen. Ach, ich könnte noch so viele Folgen nur mit Fußballphrasen füllen.

Aber ich möchte mir nicht nachsagen lassen, hier nur rumzumeckern, sondern auch konstruktiv sein. Was können wir also dagegen tun?

Vermutlich nicht viel. Aber es gibt Hoffnung. Bislang haben wir gänzlich ausgeblendet, wer den Spruch in schätzungsweise 97% der Fälle verwendet: die Kommentatoren. Denen nun mal aber alle anderen zuhören müssen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass irgendein normaler Fußballfan vor dem Fernseher sitzt und vollkommen unironisch „Solche Geschichten schreibt nur der Fußball“ vor sich hinmurmelt. Nicht einmal rülpsend nach drei Litern Weißbier.

Wir müssten uns also bei den übertragenden Sendern über die Kommentatoren beschweren. Einfach eine gepfefferte Mail, so löst man bekanntlich jedes Problem! Es ist aber gut möglich, dass die Postfächer von Sportschau, Sportstudio & Co. bereits voll sind, weil sie sich in den letzten Jahren immer öfter erdreisten, unseren guten alten Fußball von FRAUEN kommentieren zu lassen. Die Redaktionen haben also sicherlich genug damit zu tun, die Ausschweifungen der ganzen Uwes, Manfreds und Heinz-Peters zu lesen, in denen sie darlegen, dass sie ja überhaupt nicht frauenfeindlich seien, ausgerechnet diese eine Frau aber eine ganz schlechte Kommentatorin sei – das alles garniert mit eindeutig frauenfeindlichen Ausdrücken. Solche Geschichten schreibt nur der Fußball.

Und da wären wir auch schon bei einer effektiveren Strategie: Wir müssen den Spruch ins Gegenteil umkehren. Nutzen wir ihn also, um die Dysfunktionalität dieser Sportart zu betonen. Bayern wird zum drölfzigsten Mal nacheinander deutscher Meister? Solche Geschichten schreibt nur der Fußball. Der Terminkalender wird mit lauter irrelevanten Wettbewerben zugekleistert, um noch ein kleines bisschen mehr Geld herauszupressen? Solche Geschichten schreibt nur der Fußball. Ein Scheich-Klub gewinnt nach Milliardeninvestitionen endlich die Champions League? Solche Geschichten schreibt nur der Kapitalismu… äh, Fußball. Frauen-Fußball wird beim DFB erst verboten, dann jahrzehntelang ignoriert und schließlich zu wenig bzw. nur alibimäßig gefördert? Solche Geschichten schreibt nur der Fußball. Die korrupte FIFA sagt, dass sie ab sofort weniger korrupt sein wird, nur um dann doch weiterhin genauso korrupt oder sogar noch korrupter zu sein, natürlich nicht ohne so zu tun, als sei man die weltoffenste Wohltätigkeitsorganisation schlechthin? Solche Geschichten schreibt nur der Fußball. Was für eine Tragödie, nicht einmal Sophokles könnte sich so etwas ausdenken. Denn für all jene, die dieses Spiel wirklich lieben und nur einen Hauch von Aufrichtigkeit von den Verantwortlichen verlangen, haben die Geschichten, die sich der Fußball aktuell in seinem Oberstübchen ausdenkt, kein Happy End.

Den Fußball werden wir nicht retten, vielleicht aber immerhin seine Schriftsteller-Karriere etwas eindämmen können. Dafür müssen wir wahrscheinlich radikaler sein: Benutzen Sie die Solche-Geschichten-Schablone auch in banalen Alltagssituationen, wenn sich das Schicksal wendet und unerwartet etwas Freudiges passiert. Neulich war ich zum Beispiel am Hauptbahnhof und auf der Anzeigetafel stand, dass der Zug 45 Minuten Verspätung hat. Da hatte ich mich natürlich schon geärgert… aber dann ist etwas Unglaubliches passiert: Der Zug hatte doch nur 40 Minuten Verspätung. „Solche Geschichten schreibt nur die Deutsche Bahn!“, habe ich ungläubig kopfschüttelnd meinen Mitreisenden zugerufen.

Tun Sie es mir gleich! Zum Beispiel, wenn Sie demnächst beim Norma in der elendig langen Schlange stehen, obwohl Sie nur ein Glas Gewürzgurken und Scheiblettenkäse kaufen wollen. Fast haben Sie sich schon mit ihrem grausamen Schicksal abgefunden, fünf Minuten warten zu müssen, aber dann wird doch noch eine zweite Kasse eröffnet und Sie handeln gedankenschnell, liegen in der aufkommenden Stampede zunächst auf dem zweiten Platz und drängeln sich sogar noch in letzter Sekunde an der führenden Rentnerin vorbei. Brechen Sie dann in frenetischen Jubel aus und rufen Sie: „Solche Geschichten schreibt nur der Einzelhandel!“

Oder beim Kartenspielen mit Ihrem siebenjährigen Neffen: Er ist schon kurz vorm Gewinnen, hat nur noch eine Karte, aber dann drücken Sie ihm noch eine dieser fiesen schwarzen Plus-Vier-Karten rein, gewinnen selbst noch und bringen ihn so zum Heulen. Solche Geschichten schreibt nur Uno!

Ich möchte mich ja nicht selbst loben und tue das auch ganz selten, aber so kommt unsere Rasengraswurzelbewegung vielleicht irgendwann auch bei den Kommentatorenplätzen an. Alleine können wir nicht viel ausrichten, aber gemeinsam, ja, gemeinsam können wir es schaffen! Solche Geschichten schreibt nur die Rubrik „Das Abscheulichste, das die deutsche Sprache momentan zu bieten hat – und was wir dagegen tun können“!

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