Ein Herz für Jogginghosen – Manuel Schumann

Hey, Michi!

Hey, Michi!

Ich bin der Typ Mensch, dessen soziale Inkompetenz sich unter anderem darin niederschlägt, dass er, wenn er tatsächlich mal seine Wohnung verlassen will, aber im Hausflur noch einen Nachbarn hört, lieber noch etwas abwartet, um eine mögliche Begegnung zu vermeiden. Ach, so dringend ist es ja gar nicht, man kann auch den nächsten Bus nehmen. Pünktlich zur Uni zu kommen ist eh uncool. Ich habe keine Antipathie gegen meine Nachbarn und es ist ja eigentlich auch gar nicht so schlimm, man sagt halt Hallo und geht seines Weges. Und manchmal, insbesondere auf dem Nachhauseweg, sind Begegnungen ja auch unvermeidlich.
Bei einer dieser unvermeidlichen Begegnungen hat einer meiner Nachbarn – ein netter, offener Typ, etwa gleich alt wie ich – dann doch etwas mehr als nur „Hallo“ gesagt, es hat sich so etwas wie ein Gespräch entwickelt, bei dem ich – meinen stark begrenzten Smalltalk-Skills zum Trotz – wohl ganz ordentlich performt habe. Als wir den Austausch von irgendwelchen belganglosen Informationen schließlich beendet hatten und bereits im Begriff waren, wieder unserer Wege zu gehen, sagte mein Nachbar plötzlich: „Du bist der Michi, oder?“ – „Nein: Manuel“, antwortete ich, möglichst ohne besserwisserisch zu klingen, und fragte ihn natürlich noch nach seinem Namen. Nun hatten wir gewissermaßen das nächste Level unserer bescheidenen nachbarlichen Beziehungen freigeschaltet. Ich fragte mich hinterher, warum er angenommen hatte, dass ich „Michael“ heißen würde. Wahrscheinlich nicht nur deshalb, weil das einer der häufigste Namen mit M ist, sondern auch, weil auf meinem Klingelschild nur „M. Schumann“ steht – da wurde in ihm wohl die Assoziation zu Michael Schumacher geweckt. Und oft ist es ja so, dass man eine einmal gefasste Vorstellung kaum mehr aus dem Kopf bekommt, auch wenn sie sich hinterher als noch so falsch herausstellt. Weil das auch bei mir manchmal so ist, war ich nicht überrascht, dass mir mein Nachbar, als wir uns das nächste Mal im Treppenhaus begegneten, ein herzliches „Hey, Michi!“ entgegenrief. Der Michael hatte sich einfach schon zu sehr in seinem Kopf festgesetzt. Sollte ich ihn trotzdem korrigieren und sagen, dass ich gar nicht Michael, sondern Manuel hieß? Ein sozial kompetenter Mensch hätte das wahrscheinlich ohne viel Tamtam gemacht, ich aber wägte ab, welche Worte ich wählen sollte, um nicht unsympathisch zu klingen. Und da war er auch schon an mir vorbei, wieder einmal hatte mir meine Verzagtheit eine Entscheidung abgenommen. Im ersten Moment war ich erleichtert, denn ob mein Nachbar mich für einen Manuel, einen Michael oder einen Manfred hielt, war mir im Prinzip vollkommen wurscht. Als ich aber genauer über diese Situation nachdachte, wurde mir klar, dass es von nun an kein Zurück mehr gab. Denn natürlich schleuderte mir mein Nachbar ab sofort immer sein „Hey, Michi!“ entgegen, ganz so als seien wir die besten Kumpels. Ich hatte den Zeitpunkt verpasst, ihn noch zu korrigieren, ich konnte jetzt nicht einfach sagen „Ach übrigens, ich heiße gar nicht Michi, hehe, du hast es die ganze Zeit falsch gesagt“. Das wäre extrem peinlich gewesen. Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, ihm einen Zettel in den Briefkasten zu werfen, auf dem „Ich bin nicht Michi“ geschrieben stand. Ich verwarf diese Idee aber recht schnell wieder, denn einerseits wäre das ziemlich psycho gewesen und andererseits wäre die nächste Begegnung dann bestimmt noch um ein Vielfaches peinlicher verlaufen.
Nein, es gab nur eine Möglichkeit: Wenn mir das freundlich-unbekümmerte „Hey, Michi!“ meines Nachbarn entgegenschallte, musste ich das Spielchen mitspielen. Und tatsächlich, für diese paar Sekunden verwandelte ich mich in Michi. Oft schob er noch so was wie „Alles fit?“ hinterher und Michi antwortete in seinem lässigen Michi-Ton: „Ja klar, und bei dir?“ Nachdem ich dann die Tür hinter mir geschlossen und ich mich in Manuel zurückverwandelt hatte, atmete ich erleichtert auf. Diesmal war alles gut gegangen. Aber wie lange noch, wie lange konnte ich dieses Versteckspiel noch aufrechterhalten? Ich lebte in der ständigen Angst, enttarnt zu werden. Ich war wie Batman bzw. Bruce Wayne, nur in uncool.
So begann ich, gewisse Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, zum Beispiel bestellte ich fortan nichts mehr im Internet. Die Gefahr war einfach zu groß, dass das Paket bei meinem Nachbarn abgegeben wurde, während ich nicht da war. Erst später fiel mir ein, dass ich ja auch unter dem Namen „Michael Schumann“ bestellen konnte, was ich dann auch tat. Aber was, wenn der Postbote mal aus Versehen einen Brief in den falschen Kasten warf? Ich konnte schließlich nicht überall meinen Namen ändern, das wäre vermutlich illegal gewesen. „Herr Schumann, Sie sind vorläufig festgenommen wegen Vorspiegelung falschen Vornamens. Kommen Sie bitte mit aufs Revier.“ Schreckliche Albträume plagten mich in dieser Zeit. Einmal träumte ich sogar davon, dass ich den Oscar als bester Hauptdarsteller verliehen bekam. „And the winner is: Manuel Schumann für seine virtuose Darstellung des Michi“. Als ich dann aber auf der Bühne stand und gerade zu einer pathetischen Dankesrede ansetzen wollte, fiel mir ein, dass möglicherweise – nein, ganz bestimmt sogar! – auch mein Nachbar die Verleihung gerade anschaute und nun mein ganzes Lügengebilde wie ein Kartenhaus zusammengestürzt war. Ich wachte schweißgebadet auf. Ich nahm mir vor, noch vorsichtiger zu sein und nichts dem Zufall zu überlassen.
Als ich mit einem guten Freund ein Treffen bei mir vereinbarte, bat ich ihn, mich für die Dauer seines Besuchs Michi zu nennen. Die Wände waren dünn in diesem Haus und ich konnte nicht riskieren, dass er mich mit Manuel anredete und so vielleicht mein Nachbar etwas spitzkriegte. Mehr noch, ich stiftete ihn sogar dazu an, mich im Treppenhaus explizit mit Michi anzusprechen. Ich hatte ihm im Voraus folgenden Text zugeschickt, den er einstudieren und in gehobener Lautstärke aufsagte: „Hey, MICHI, wir haben uns ja schon ewig nicht gesehen. Wie geht es dir, MICHI? Danke, MICHI, mir geht es auch gut. Ich stelle meine Schuhe hier ab, MICHI, ist das okay, MICHI?“ Und so weiter.
Michael – ehrlich gesagt war mir der Name nie sonderlich sympathisch gewesen, er klang für mich immer ein bisschen egozentrisch. Michael – nicht Dichael oder Sichael, nein, es heißt MICHael. Und dennoch, langsam begann ich mich an den Klang dieses Namens zu gewöhnen. Wahrscheinlich wäre ich extrem irritiert gewesen, wenn mir mein Nachbar irgendwann mal „Hey, Manu!“ entgegengerufen hätte. Aber das passierte nie.
Eines Morgens, als ich mich gerade im Badezimmer für den Tag frisch gemacht hatte, blieb ich noch einmal vor dem Spiegel stehen. Ich schaute mir kritisch ins Gesicht. Hatte mein Nachbar vielleicht Recht? War ich nicht tatsächlich mehr ein Michael als ein Manuel? Manche Menschen sehen ja nach einem bestimmten Namen aus. Wenn ich im Bus irgendwelche fremden Leute beobachte, denke ich mir oft „Ein klassischer Norbert“ oder so. Oder manchmal auch komplexere Sachen wie zum Beispiel „Jaja, Gertrud, obwohl wir noch nicht annähernd bei der nächsten Haltestelle sind, willst du natürlich jetzt schon aufstehen und gibst mir körpersprachlich zu verstehen, dass ich dir gefälligst Platz machen soll, alles klar, Gertrud.“ Aber hier ging es nun um mich. Nachdem ich etwa eine halbe Stunde in den Spiegel gestarrt hatte, wurde es mir mit einem Mal klar. Ich war kein Manuel, ich war ein glasklarer Michael. Wie konnte mir das all die Jahre entgangen sein? Meine Gesichtszüge waren eindeutig michaelartig, ja, geradezu michaelesk. Ich ärgerte mich über meine Eltern, die für diesen Fauxpas verantwortlich waren. Ich rief sie sofort an und machte ihnen schwere Vorwürfe, wie sie meine offensichtliche Michaeligkeit nur übersehen konnten. Gleichzeitig teilte ich ihnen mit, dass ich ab sofort Michael und nicht mehr Manuel genannt werden mochte. Auch nach all den Jahren konnte sich meine Mutter ihren Fehler nicht eingestehen, sie beharrte auf ihren lächerlichen Manuel. Zum Schluss sagte sie, dass sie den Namen ja ohnehin schon vor meiner Geburt ausgesucht hätten und sich gar nicht am Äußeren hätten orientieren können. Da hatte sie natürlich einen Punkt. Aber gibt es da in der heutigen Zeit nicht Möglichkeiten? Mittlerweile ist die Pränataldiagnostik doch so weit fortgeschritten. Kann da der Arzt nicht eine Fruchtwasseranalyse machen und dann sagen, welcher Name zum Kind passt? „Frau Schmidt, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Sohn mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Kevin wird, mein Beileid.“
Aber für mich war es zu spät, ich musste mich mit meinem falschen Namen arrangieren. Denn eine Änderung des Vornamens – darüber hatte ich mich längst informiert – war nicht so einfach. Es müsse ein „wichtiger Grund“ vorliegen. Dass mir von Geburt an der falsche Name zugeteilt worden war, wäre da vermutlich nicht hinreichend gewesen. Trotzdem unternahm ich das Möglichste, um meinen alten Namen aus meinem Leben zu eliminieren. In meinem ohnehin schon kleinen Freundeskreis trennte sich die Spreu vom Weizen: Mit denjenigen, die nicht bereit waren, meinen Weg mitzugehen, brach ich sofort jeglichen Kontakt ab. Nur diejenigen, die absolut loyal zu mir waren, konnten meinen neuen Namen akzeptieren. Wenn ich nun eine humorvolle Bemerkung machte, klopften sie mir auf die Schulter und sagten „Haha, typisch Michi! So einen Spruch kann halt nur der Michi bringen!“.
Zeitweise vergaß ich sogar meinen alten Namen. Wie war der noch gleich? Markus? Matthias? Manfred? Wie auch immer, ich war mit meinem Michi-Dasein vollauf zufrieden… Bis zu dem Tag, an dem ich meinen Nachbarn mit einem Kinderwagen vor der Wohnung sah. Nachdem er mich mit seinem „Hey, Michi!“ begrüßt hatte, gratulierte ich ihm natürlich zu seinem Nachwuchs und fragte der Höflichkeit halber, wie der Kleine denn heiße. „Manuel“, antwortete mein Nachbar. Ich musste mich bemühen, nicht die Fassung zu verlieren. Er bemerkte wohl die unkontrollierten Zuckungen und fragte mich, ob mir der Name denn nicht gefalle. Seine Frau und er, fügte er hinzu, fänden Manuel nämlich sehr schön. Weil mir nichts anderes einfiel, murmelte ich den Namen mit fragender Intonation vor mich hin. „Ma-nu-el…“ Und nochmal: „Ma-nu-el…“ Ganz so, als handele es sich um einen total exotischen Namen, den ich gerade zum allerersten Mal aussprach. Ich tat so, als würde ich den Klang des Namens eine Weile auf mich wirken lassen, dann verkündete ich mein Urteil: „Ja, doch, es ist kein schlechter Name – wenn er denn zu der Person passt. Also für mich wäre das ja nichts.“ Daraufhin verfiel ich in ein nervöses Lachen. Mein Nachbar schaute mich mit ausdruckslosem Gesicht an. Ohne jegliche Verabschiedung stürmte ich ins Haus und verbarrikadierte mich in meiner Wohnung. Ich erlitt einen Nervenzusammenbruch, verließ mein Bett tagelang nicht mehr. Halb ohnmächtig lag ich da, flüsterte nur von Zeit zu Zeit die Worte „Er weiß, er weiß“ vor mich hin. Ich war mir sicher, dass mein Nachbar seinen Sohn nur aus einem einzigen Grund Manuel genannt hatte: Er hatte mich und mein Lügenkomplott durchschaut und nun wollte er mich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln fertigmachen. Und das war ihm vortrefflich gelungen. Ich hielt dieses Psychospielchen nicht mehr länger aus. Ein kompletter Neuanfang musste her. Ich kündigte meine Wohnung und zog in einen anderen Stadtteil.
Diesmal nahm ich mir vor, nicht mehr so scheu zu sein, mich ein bisschen meinen Nachbarn gegenüber zu öffnen. Ich horchte also an der Tür und als ich endlich ein Geräusch im Treppenhaus vernahm, kam ich sofort heraus und passte meinen neuen Nachbar ab. Der nette, scheinbar zufällig zustande gekommene nachbarliche Plausch konnte beginnen. Zum Schluss, nachdem ich ihm meine halbe Lebensgeschichte erzählt hatte, fragte ich ihn, wie er denn eigentlich heiße. Er nannte mir seinen Namen und fragte dann natürlich nach meinem. Ich aber war auf diese simple Frage nicht vorbereitet, stammelte nur vor mich hin. „Mi… Ma… Mi… Ma… Mi… Ma…“ Der neue Nachbar schaute mich irritiert an. „Mi… Ma… Mi… Ma… Mi… Ma… Manfred“, presste ich schließlich mit letzter Kraft heraus. Oh nein, nicht schon wieder! Und seitdem laufe ich auf leisen Sohlen durch das Treppenhaus, immerzu in Erwartung eines freundlichen „Hey, Manni!“.


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