Ein Herz für Jogginghosen – Manuel Schumann

Hapaxlegomenon

Hapaxlegomenon

Es ist immer etwas unkreativ, mit einem Zitat zu beginnen. Nun, ich tue es trotzdem, vielleicht fällt mir ja dafür am Ende etwas Kreativeres ein. Aber ich möchte nicht vorgreifen. Das Zitat ist auch ganz kurz, versprochen: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ – Ludwig Wittgenstein. Mach dir keine Sorgen, das soll jetzt keine philosophische Abhandlung werden und ich bin auch wirklich kein Wittgenstein-Experte. Aber mir ist dieser Satz sympathisch, weil er deutlich macht, dass Wörter keine feste Bedeutung haben. Ihr Gebrauch kann sich ändern. Und damit auch die Realität, die ich damit erschaffe. Im Guten wie im Schlechten. Ich kann mir die Wörter so zurechtlegen, dass etwas Poetisches, etwas Komisches, etwas Tragisches, auf jeden Fall etwas Fantastisches entsteht. Etwa mit einer sonnenblumenschönen Metapher oder mit einem Vergleich, so überraschend platziert wie ein riesiger Haufen Vogelscheiße auf deinem Kopf.

Ich kann aber auch die Wörter so verdrehen, dass ich damit Ressentiments schüre, Menschen verletze, demokratische Prozesse delegitimiere und, ganz allgemein, schlichtweg Lügen erzähle. Etwa wenn ich Geflüchtete als Sozialtouristen, Jugendliche mit Migrationshintergrund als kleine Paschas, Demonstranten als Terroristen oder mich selbst als obersten Klimaschützer bezeichne. Aber halt, nein, das sollte ja gar kein politischer Text werden. Entschuldigung. Es sollte um dich gehen und, na gut, auch ein bisschen um mich. Spulen wir nochmal zurück.

Die Bedeutung eines Wortes ist, sagt zumindest Wittgenstein, sein Gebrauch in der Sprache. Was aber, wenn dieses Wort nur ein einziges Mal vorkommt? Naja, dann ist es schwieriger, aber dazu kommen wir gleich, ich möchte nicht vorgreifen. Aber ein Wort ist es natürlich trotzdem noch, auch wenn es nur ein einziges Mal gesagt oder geschrieben wird. Ich ärgere mich immer, wenn jemand die Existenz eines Wortes anzweifelt. Also, nicht nur bei anderen, sondern vor allem auch bei sich selbst. Manchmal macht man das ja aus einer Unsicherheit heraus, man versucht irgendwas zu beschreiben, tut das auf unkonventionelle Weise, nennt dieses Wort, kommt dann aber ins Stocken und fragt sich selbst: „Moment mal: Gibt es dieses Wort überhaupt?“ Die Antwort: Ja, klaro gibt es das, du hast es doch gerade gesagt. Du kannst die bestehenden Wörter verändern, da kommt keine Sprachpolizei vorbei, nur zu!

Beispiel: Du willst aus einem Wort ein Adjektiv machen? Dann häng doch einfach ein -ig dran! „Der Abend hat richtig poetryslammig begonnen, die Moderation war wieder richtig schön thiemig, die pobackig sitzenden Leute gut drauf, aber dann dieser eine Text, der war erst zitatig, dann mäandrig, irgendwie ziemlich klammeraufig, aber zu wenig klammerzuig und am Ende wie das Innere meiner Wohnzimmerschrank-schublade, also ziemlich kabelsalatig.“ Geht immer! Naja, fast immer. Ist es sowieso schon ein Adjektiv, vor allem eins auf -ig, ist das natürlich ungünstigig. Aber Vogelscheiß drauf, du kannst machen, was du willst, dir sind keine Wortgrenzen gesetzt.

Und du kannst sogar ganz neue Wörter erschaffen. Sobald wir ein Wort verwenden, sei es auch nur ein einziges Mal, ist es da. Beispiel: Schmumpfel. Dieses Wort begegnet dir jetzt wahrscheinlich zum allerersten Mal. Und jetzt existiert es für dich, ob du es willst oder nicht. Für alle andere gibt es das Wort nicht.

Genauso wie auch das Wort „Hapaxlegomenon“ für mich nicht existiert hat, bis es neulich in mein Leben getreten ist. Und es hat mir auf Anhieb gut gefallen. Hapaxlegomenon. Es kommt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich übersetzt ‚einmal Gesagtes‘. Ein Hapaxlegomenon ist also ein Wort, das nur ein einziges Mal vorkommt. Oder besser gesagt: nur ein einziges Mal belegt ist. Besonders interessant ist das bei alten Texten, es gibt zum Beispiel eine althochdeutsche Dichtung aus dem 9. Jahrhundert namens „Muspilli“. Was das titelgebende Wort „Muspilli“ bedeutet, weiß man nicht ganz genau. Von Wissenschaftler*innen wurde oft vermutet, dass es so etwas wie ‚Weltuntergang durch Feuer‘ bedeutet. Zumindest passt das gut in den Kontext. Trotzdem finde ich das irgendwie komisch, so dramatisch hört es sich ja gar nicht an, oder? Muspilli. Durch die -i-Endung eigentlich sogar ganz niedlich. Es erinnert mich an eine Nuss-Nougat-Creme für Kinder, ganz streichzart, oder am besten gleich ein Mus. „Mama, kann ich noch ein Brot mit Muspilli?“ Aber naja, diese These hab ich ehrlich gesagt noch nirgendwo gelesen, wahrscheinlich ist es dann halt doch der WELTUNTERGANG DURCH FEUER. Wie gesagt, ganz sicher weiß man es nicht. Weil es halt in allen überlieferten althochdeutschen Texten nur einmal vorkommt, in eben diesem einen Text. Wer auch immer derjenige war, der dieses Wort auf Pergament festgehalten hat, hat in der Rückschau etwas Einmaliges vollbracht. Ist das nicht faszinierend? Hattest du auch schon mal den Wunsch, etwas Außergewöhnliches, etwas nie Dagewesenes zu erschaffen, einen völlig neuen Weg zu beschreiten, den noch niemand anderes vor dir beschritten hat?

Das kannst du. Du kannst neue Wörter erschaffen. Und damit eine neue Realität. Probier’s doch mal aus: Überleg dir ein Wort, das nur du kennst, dein eigenes Hapaxlegomenon. Nicht Muspilli, nicht Schmumpfel, sondern eines, das nur dir gehört, dir ganz allein. Vielleicht ein komisches Wort, an das du immer denken kannst, wenn es dir schlecht geht, weil es dich in seiner Albernheit aufmuntert. Oder ein tragisches Wort, das dich aufrüttelt und dich immer aus der tauben Gleichgültigkeit reißt, der du zu lange verfallen warst. Oder ein Wort, das nicht nur komisch oder nicht nur tragisch ist, sondern irgendwie beides zugleich. Ein Wort, das dir Kraft gibt, und zwar auch dann, wenn du glaubst, dass dein persönliches Muspilli bevorsteht. Ein Zauberwort, das dich an diese eine Stelle spulen lässt, in der noch alles in Ordnung war. Ein Wort, das du wie einen Schatz hütest, das du vor dich hin flüsterst wie Gollum aus „Herr der Ringe“ in seiner Höhle. Dein Schatz. Halt, nein, das ist kein gutes Bild, du bist ja nicht verrückt, zumindest nicht auf diese Weise. Entschuldige, ich wollte dich wirklich nicht mit Gollum vergleichen. Spulen wir nochmal zurück.

Es ist immer etwas unkreativ, mit einem Zitat… Nein, nochmal Entschuldigung, das war zu weit. Ich spule wieder etwas vor. So: Probier’s doch mal aus: Überleg dir ein Wort, das nur du kennst, dein eigenes Hapaxlegomenon. Nicht Muspilli, nicht Schmumpfel, sondern eines, das nur dir gehört, dir ganz allein. Ein Wort, das du jederzeit, was auch immer passiert, aus der Tasche ziehen kannst, aber nur sparsam verwendest, weil du Angst hast, dass es sich abnutzt und zu einer Floskel verkommt. Ein Wort wie eine schöne Kindheitserinnerung, die dir aus heiterem Himmel wieder einfällt, aber gleichzeitig so geheimnisumwoben wie die Benjamin-Blümchen-Kassette, die du nie zu Ende hören konntest, weil du immer vorher eingeschlafen bist. Ein Wort, das ein ganz bestimmtes… oder naja, vielleicht auch vollkommen diffuses Gefühl in dir weckt, das du gar nicht anders ausdrücken kannst, als mit diesem einen Wort. Ein gedanklicher Prozess, eine spezielle Weise zu denken, die, wie du glaubst, nur dir allein zu eigen ist. Klammer auf: Wie du glaubst. Aber ich möchte nicht vorgreifen.

Dein Wort muss wie ein Passwort sein, ein Passwort zu deinem innersten Inneren, das niemand knacken kann. Nicht „123456“, nicht dein Geburtsdatum oder irgendeine andere läppische Ziffernfolge, nicht dein Name, nicht „Hallo“, nicht „Qwertz“ und auch nicht „Passwort“, sondern etwas anderes, Individuelles. Ein Wort, das wirklich nur du kennst und du im Zweifel mit in dein Grab nimmst. Oder nein, noch besser, das du irgendwo vollkommen zusammenhangslos auf einen Zettel schreibst, vor dem die Leute dann grübelnd stehen. „Schmumpfel? Was hat er bloß damit gemeint?“, höre ich sie schon sagen. „Welchen tiefsinnigen Gedanken wollte er damit wohl ausdrücken?“

Oder, naja, vielleicht interessiert auch keine Sau, was du irgendwann mal auf einen Zettel gekritzelt hast, und er wird weggeworfen. Und mit dir verschwindet auch dein Wort. Aber manchmal ist es die Vorstellung, die zählt. Und vielleicht landet der Zettel ja bei dem ganzen anderen Müll, irgendwo zwischen Joghurt- und Brotaufstrich-Verpackungen auf einer riesigen Müllinsel im Ozean. Und irgendwann, eines vielleicht gar nicht so fernen Tages landen zwei Außerirdische vom Planeten Zappzagungi auf der Erde und wühlen darin herum, um etwas über unsere Zivilisation zu erfahren. Sie finden den Zettel, dechiffrieren mühsam dieses merkwürdige Wort, das du oder in diesem Fall ich aufgeschrieben hab. „Schmumpfel?“, sagt der eine Außerirdische. „Was das wohl zu bedeuten hat? Es hört sich ja eigentlich ganz niedlich an, wie ein kleines Wesen, ein süßes kleines Schmumpfel, das aus einem Loch gekrochen kommt und einem mit quietschiger Stimme zuruft ‚Hey, es ist doch alles gar nicht so schlimm‘ und mindestens für einen kurzen Moment glaubt man, dass tatsächlich alles gar nicht so schlimm ist.“ – „Ja, kann schon sein“, antwortet der andere Außerirdische nach einer längeren Pause. „Aber vielleicht bedeutet es auch einfach ‚Weltuntergang durch sinnlose Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen‘.“ Und die beiden Außerirdischen lachen dreckig in die verwüstete Müllerde hinein.

Aber, halt, nein, ich wollte ja nicht politisch werden. Es sollte ja eigentlich etwas ganz Persönliches sein. Und jetzt habe ich mich doch wieder in einer anderen Geschichte verzettelt, Entschuldigung. Spulen wir nochmal zurück.

Dein Wort, dein Hapaxlegomenon, muss wie ein Passwort sein, ein Passwort zu deinem innersten Inneren, das niemand knacken kann. Nicht „123456“, nicht dein Geburtsdatum oder irgendeine andere läppische Ziffernfolge, nicht dein Name, nicht „Hallo“, nicht „Qwertz“ und auch nicht „Passwort“, sondern etwas anderes, Individuelles. Ein Wort, das wirklich nur du kennst und du im Zweifel mit in dein… Oder, nein, vielleicht auch nicht. Vielleicht kommt irgendwann doch der eine Moment, in dem du es einer anderen Person ins Ohr hauchst. Einer besonderen Person. Einer Person, die dir die Vogelscheiße aus den Haaren klaubt. Einer Person, die die Benjamin-Blümchen-Kassette endlich mit dir zu Ende hört und die die kabelsalatige Wohnzimmerschrankschublade nicht entwirrt, sondern mit dir über dieses ganze Chaos lacht. Einer Person, mit der sich das immer wieder aufkeimende Gefühl der Muspilligkeit vielleicht nicht ganz wie ein streichzartes Nuss-Nougat-Mus, aber doch etwas weniger bedrohlich anfühlt.

Einer Person also, der du dein Wort, dein Passwort, einfach so verrätst. Und die dir sagt, dass du es gar nicht hättest verraten brauchen, weil sie es schon längst gewusst, schon längst geknackt hat. Und genau weiß, was damit gemeint ist. Und dann wird plötzlich aus einem Hapaxlegomenon ein Dislegomenon.

Es ist ziemlich unkreativ, mit einem Zitat zu beginnen. Und es ist auch ziemlich unkreativ, den ersten Satz am Ende nochmal zu wiederholen. Aber ich mache das sehr gerne, es fühlt sich gut an, wie eine runde, klammerzuige Sache, obwohl man zwischendurch so einige Haken geschlagen hat, ziemlich schmumpfelig unterwegs war. Denn wie sagte schon… irgendein Typ, jedenfalls nicht Ludwig Wittgenstein: „Wer schmumpfelt, kommt auch ans Ziel. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht führt es letztendlich nur in grandioses Scheitern und man fragt sich, was das alles zu bedeuten hatte. Aber egal, denn mindestens für einen kurzen Moment hat man sich verschmumpfeln lassen, mindestens für einen kurzen Moment hat man geglaubt, dass alles gut ist und vielleicht auch sein wird.“ Aber ich möchte nicht vorgreifen.


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