Ein Herz für Jogginghosen – Manuel Schumann

Sinn los

Kontext: Diese Geschichte entstand 2017 innerhalb eines Schreibwerkstatt-Kurses an der Uni – der Schreibauftrag des geschätzten Herrn Harzers lautete damals, ein sogenanntes „Sinnentagebuch“ zu führen. Eine Aufgabe, mit der ich offensichtlich nicht so recht klargekommen bin.


Für den Typen im Pommes-Kostüm.

Sinn los

Wenn du diesen Text liest, bin ich vielleicht schon tot. Aber meine Aufzeichnungen sollen der Nachwelt erhalten bleiben, hier in diesem Tagebuch. Schon lange stelle ich mir die Frage, ob wir uns mit dem zufriedengeben müssen, was wir haben. Sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen. Nur fünf Sinne – reicht das wirklich aus, in der heutigen Zeit? Nein, das ist zu wenig, das ist einfach zu wenig und deshalb möchte ich mich einem noch nie dagewesenen Experiment unterziehen, ich möchte mich auf die Suche machen nach neuen Sinnen, ich möchte etwas völlig Neues entdecken und die Grenzen unserer üblichen Empfindungen sprengen. Ich weiß, das ist gefährlich. Aber ich tue es nicht für mich – ich tue es für die Wissenschaft.


Samstag.

Ich befinde mich auf Trash-Level drölf. Und in Sindelfingen. Nach Sindelfingen fährt man in der Gegend meiner Heimat eigentlich nur, wenn man zu IKEA muss. Aber ich bin nicht bei IKEA (zum Glück!), sondern in einer Halle und schaue bei einem Darts-Turnier zu. Ja, genau, ich schaue dabei zu, wie Leute Pfeile auf eine Scheibe werfen. Und nein, das ist NICHT langweilig, Darts ist ein wirklich interessanter, spannender Sport! Und doch kann ich mich nicht so recht darauf konzentrieren, wie die besten Spieler der Welt einen Pfeil nach dem anderen in die Triple-20 hämmern. Denn gefühlt die Hälfte der paar tausend Leute hier ist verkleidet. Und säuft. Und grölt. Es ist klar, dass ich hier irgendwie nicht reinpasse, aber trotzdem fühle ich mich wohl. Warum eigentlich? Es ist ja eigentlich so ähnlich wie Fasching und es gibt kaum etwas auf dieser Welt, das ich so sehr hasse wie Fasching. Außerdem versuche ich mich meist von großen Menschenmengen fernzuhalten. Warum gefällt mir das also? Wahrscheinlich weil das alles so ironisch wirkt, die Verkleidungen sind kreativer als bei Fasching und die Stimmung ist friedlicher als bei jedem Fußballspiel, bei dem ich bisher… Scheiße! Da fällt es mir ein: das Sinnentagebuch! Ganz vergessen. Ok, ok, also an die Arbeit. Vielleicht ist heute ja mein „Geruchssamstag“? Ich schnüffle. Es riecht bierig, schweißig, stickig. Nein, besser kein „Geruchssamstag“. Ich versuche noch ein paar andere Eindrücke zu sammeln, aber ich merke wieder, dass mir das einfach nicht liegt. Ich schaue zu meinem Sitznachbarn, er ist als Portion Pommes verkleidet und nein, das ist bei Weitem nicht die bescheuertste Verkleidung hier und weil gerade eben schon ein als Senftube verkleideter Mann vorbeigelaufen ist, erscheint mir das eigentlich nur konsequent. Die Portion Pommes sieht aber irgendwie traurig aus, er ist mit seinen Kumpels hier, säuft aber gar nicht so richtig mit und starrt auf den Boden. In mir drängt sich eine Frage auf: Wie ist es, eine Portion Pommes zu sein? Ist es überhaupt möglich, sich in eine Portion Pommes reinzuversetzen? Tja, darüber haben sich die Gelehrten noch keine Gedanken gemacht, typisch. Also tippe ich den Typen im Pommes-Kostüm an und frage ihn, ganz feierlich: „Wie ist es, eine Portion Pommes zu sein!?!“ Er starrt mich für einige Sekunden ungläubig an. Dann kotzt er mir ins Gesicht. „Beantwortet dir das deine Frage?“, krächzt er und wischt sich mit seinem Handrücken die restliche Kotze vom Mund. „Ja“, sage ich freudestrahlend, „vielen Dank, diese Antwort hat mich sehr bereichert!“

…………. Nein, natürlich habe ich das nicht getan, ich habe den Typen im Pommes-Kostüm nicht angetippt und gefragt, wie es ist, eine Portion Pommes zu sein. Aber ich hätte es am liebsten getan.


Montag.

Ich sitze auf glühenden Kohlen. Und in der Straßenbahn zur Uni. Gleich ist es wieder so weit, gleich kommt wieder die Durchsage. Moment, jetzt… gleich. Ja, da ist sie: „Nächster Hält: Theodor-Heuss-Platz / IHK. Next stop: The chamber of pommes and industry.“ Da ist es wieder. The chamber of POMMES and industry. Natürlich weiß ich, dass es nicht „Pommes“ heißt, aber so sehr ich mich auch bemühe, ich höre immer nur „Pommes“. The chamber of POMMES and industry. Die Straßenbahn hält an und ich beschließe spontan, auszusteigen und renne in die Pommes-Kammer. Plötzlich stehe ich auf einem Sprungbrett und blicke auf ein Meer aus funkelnden, fettigen Pommes. Es ist Zeit für ein Bad. „Ach, es ist mir ein Hochgenuss, wie ein Seehund hineinzuspringen, wie ein Maulwurf darin herumzuwühlen und sie in die Luft zu schmeißen, dass sie mir auf den Kopf prasseln.“ Ich werde eins mit den Pommes, es ist ein salziges Gefühl der Freiheit, ich bin glücklich.

…………. Nein, natürlich habe ich das nicht getan, ich bin nicht ausgestiegen und habe nicht in Pommes gebadet. Aber ich hätte es am liebsten getan. 


Mittwoch.

Ich stehe vor 29 Leuten. Und vor einem Rätsel: So viele? Aber gut, es ist der erste Termin des Tutoriums in diesem Semester, einige werden sicherlich flüchten, wenn sie erst mal mich und mein Gestammel kennenlernen. Es geht um Phonetik und Phonologie und ich erkläre nochmal das deutsche Konsonantensystem. Ich rede schon zu lange über die verschiedenen Artikulationsorte und -arten und ich merke, wie die Leute abschalten. Ich muss mal wieder eine Frage stellen, aber welche bloß? „Es ist natürlich so“, beginne ich, „dass viele Wörter schön klingen. Wisst ihr aber, welches Wort mit Abstand am schönsten klingt?“ Ein paar Leute melden sich, aber ich beschließe, ihrer lächerlichen Antworten doch nicht hören zu wollen und sage voller Entrüstung: „Das ist doch offensichtlich! Der doppelte Lippenschlag, zuerst der Plosiv [p], dann der Nasal [m], dieses bilabiale Zusammenspiel, einfach himmlisch, und dann noch, sozusagen als krönender Abschluss, der stimmlose alveolare Frikativ [s]. Pommmässssssss. Herrlich.“ Ich schaue in die Runde, doch niemand schaut zurück, denn alle sind damit beschäftigt, eifrig in ihren Block „Schönstes Wort = Pommes“ zu notieren. Ein verschlagenes Lächeln umspielt meine Lippen.

…………. Nein, natürlich habe ich das nicht getan, ich habe nicht „Pommes“ zum schönsten Wort erklärt. Aber ich hätte es am liebsten getan.


Donnerstag.

Ich bin in einem Seminar. Und für diese frühe Uhrzeit nicht geschaffen. Der Dozent referiert über Foucault und Derrida und über Vernunft und Wahnsinn. ‚Auf welcher Seite stehe ich wohl?‘, frage ich mich selbst und lache dreckig in mich hinein. Meine Gedanken schweifen wieder und wieder ab, aber trotzdem möchte ich, der Typ in der letzten Reihe, auch mal etwas Geistreiches beitragen, so wie all die anderen hier. Ich melde mich und der Dozent ruft mich überrascht auf. „Nun, es gibt da einen Aspekt“, beginne ich, „der bislang gänzlich außer Acht gelassen wurde.“ Ich mache eine kunstvolle Pause, dann sage ich es, mit aller Selbstverständlichkeit: „Pommes.“ Es breitet sich eine nachdenkliche Stille aus, doch nach einigen Sekunden sagt der Dozent: „Vielen Dank für diesen geistreichen dekonstruktivistischen Beitrag, Manuel, Sie haben uns einen völlig neuen Blickwinkel auf das Thema offeriert.“ Und auch viele meiner Kommilitonen nicken anerkennend, aber einige werfen mir auch einen neidischen Warum-bin-ich-da-nicht-draufgekommen-Blick zu. Ich lächle souverän und fühle mich wohl.

…………. Nein, natürlich habe ich das nicht getan, ich habe mich nicht gemeldet und „Pommes“ gesagt. Aber ich hätte es am liebsten getan.


Freitag.

Ich wache auf, viel früher als sonst. Denn auf einmal überkommt mich ein großer Hunger. Ein Hunger, der sich in den letzten Tagen angestaut hat. Ich stürme zum Kühlschrank und reiße das Gefrierfach auf. Sofort fällt mir der große Pommes-Beutel ins Auge, ohne zu zögern beiße ich ihn auf und wühle gierig in den gefrorenen Pommes herum. Ich ziehe schließlich ein einzelnes Stück heraus, es ist lang und spitz – perfekt. Dann hole ich das Ketchup und schütte den Inhalt der gesamten Flasche auf den Tisch. Jetzt kann es endlich losgehen. Ich nehme das Pommes-Stück in die linke Hand, tupfe es in den Ketchup-Klecks und beginne damit, alles aufzuschreiben. Alles, was ich in den letzten Tagen erlebt habe – und nicht erlebt habe. Und so schreibe ich vor mich hin, ohne etwas zu sehen, ohne etwas zu hören, ohne etwas zu riechen, ohne etwas zu schmecken und ohne etwas zu spüren. Und das ist ok so, denn ich tue, was ich am liebsten tue – so lange das Ketchup rei



Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert