Ein Herz für Jogginghosen – Manuel Schumann

Schwalbe

Schwalbe

Es dürfte bekannt sein, dass mit dem Wort „Schwalbe“ nicht nur eine Vogelart gemeint sein kann, sondern eben auch ein absichtliches Sich-Fallen-Lassen im Fußball, um einen Freistoß oder gar einen Elfmeter zu schinden. Für Bernard Bodenauer, 47 Jahre, geboren in Friedrichshafen, existierte dieses Wort jedoch Zeit seines Lebens nur in einer dieser beiden Bedeutungen. Wahrscheinlich hatte er ganz vergessen, dass „seine“ Schwalbe ursprünglich auf einen Vogel zurückging, und er war wohl kaum dazu in der Lage, eine Schwalbe von irgendeiner anderen Vogelart zu unterscheiden.

Vor nur wenigen Monaten hatte Bernard Bodenauer seine Karriere als Schiedsrichter beendet. Jahrelang hatte er an jedem Wochenende auf dem Platz gestanden und dabei nicht nur über Foul oder Schwalbe, sondern auch über Tor oder nicht Tor, Sieg oder Niederlage und Meisterschaft oder Abstieg entschieden. Die Saison hatte inzwischen wieder begonnen und Bernard Bodenauer wusste zunächst nicht so recht, was er mit seinem freien Samstag anfangen sollte. Er entschloss sich, einkaufen zu gehen. In den ersten paar Minuten blieb alles ruhig, er holte die entsprechenden Produkte nacheinander aus den Regalen und behielt den Überblick über das Geschehen. An der Kasse jedoch hatte sich eine lange Schlange gebildet. Als Bernard Bodenauer gerade seine Einkäufe auf das Band legte, ertönte die Lautsprecher-Durchsage, dass nun eine neue Kasse eröffnet werde. Er achtete zunächst nicht darauf, was hinter seinem Rücken geschah, doch plötzlich hörte er einen lauten Ruf: „Ey, Schiri!“ Er drehte sich um. Ein Mann redete wild gestikulierend auf ihn ein. „Hast du das denn nicht gesehen? Der da hat sich vorgedrängelt!“ Dabei zeigte er auf einen anderen Mann, der in der Tat direkt vor ihm stand. Der Beschuldigte wies natürlich alle Schuld entrüstet von sich: „Der simuliert doch nur! So ein Schauspieler! Gratulation, eine wirklich oscarreife Leistung!“ Bernard Bodenauer hatte den Zweikampf nicht gesehen, versuchte aber, die beiden Streithähne mit mahnenden Worten zu beschwichtigen, um die drohende Rudelbildung zu verhindern. Dennoch waren beide Seiten nicht zufrieden. „Hast du denn Tomaten auf den Augen!“, bekam er zu hören, gefolgt von „Kauf dir lieber mal eine Brille!“. Er beschloss, diese Sprüche nicht zu sanktionieren, sondern zahlte an der Kasse und verließ den Supermarkt.

Während der ganzen Heimfahrt musste Bernard Bodenauer an diese Szene denken und auch am Sonntag ließen ihn seine Gedanken nicht los. Gegen Mittag schaltete er den Fernseher ein. Auf dem Sportsender saßen einige Herren in einer Diskussionsrunde beisammen. „Kommen wir nun zu dem Aufreger-Thema des Wochenendes“, sagte der Moderator. „Hier sehen wir noch einmal die Szene, die sich gestern im Supermarkt ereignet hat.“ Zu Bernard Bodenauers Überraschung wurde in der Tat eine Zeitlupe von der unglücklichen Situation im Supermarkt gezeigt. Der Moderator bat einen der Experten darum, die Szene zu analysieren: „Ja, hier sehen wir ganz eindeutig, wie Herr Müller seinen Einkaufswagen an dem von Herrn Schmidt über die Außen vorbeischiebt. Eine klare Unsportlichkeit, Schmidt hat sich völlig zurecht beim Schiedsrichter darüber beschwert. Müller hätte mindestens die gelbe Karte sehen müssen. Ein grober Fehler des Schiedsrichters, ich denke, da brauchen wir überhaupt nicht zu diskutieren. Das darf einem solch erfahrenen Mann wie Bodenauer einfach nicht passieren.“ Als Bernard Bodenauer die Szene im Fernsehen sah, wurde es ihm bewusst: Er hatte eine Fehlentscheidung getroffen.

Im Laufe der nächsten Woche, als er seinen alltäglichen Beschäftigungen nachzugehen versuchte, wurde ihm sein Fehler auf der Straße immer wieder vergegenwärtigt. „Pfui!“, riefen einige Passanten und die geringfügig kreativeren unter ihnen bedachten ihn mit Sprüchen wie „Wo haben Sie denn Ihren Blindenhund?“ oder auch „Soll ich Ihnen über die Straße helfen?“. Bernard Bodenauer versuchte diese Kommentare mit Humor aufzunehmen, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Am Samstag ging er wieder einkaufen. Er nahm sich vor, diesmal besonders wachsam zu sein, um die Scharte von der letzten Woche wieder auszuwetzen. Schon auf dem Parkplatz bemerkte er, dass ein Auto relativ schräg positioniert war. Er bückte sich, kniff die Augen zusammen und bemerkte, dass das rechte Vorderrad tatsächlich mit vollständigem Reifenumfang über die Linie hinausragte. Da der Besitzer des Autos nicht anwesend war, beschloss er, die fällige gelbe Karte an den Scheibenwischer zu klemmen. Mit einem souveränen Lächeln trat er in den Supermarkt ein. Während des Einkaufens musste er zwar einige Leute ermahnen, wie etwa eine Mutter mit ihrem Kind, die den anderen Kunden den Weg versperrte, insgesamt blieb er aber stets Herr der Lage. Als er sich jedoch wieder an der Kasse anstellte, sah er plötzlich, wie sich ein etwa 10-jähriger Junge aus stark abseitsverdächtiger Position an einer alten Dame vorbeischob. Diesmal musste er hart durchgreifen. Bernard Bodenauer pfiff in seine Pfeife und trat an den Jungen heran. Mit einem Griff in seine hintere Hosentasche zückte er die rote Karte und streckte sie in die Höhe. Natürlich spielte der Junge das Unschuldslamm, eine einzelne Träne kullerte ihm über die Wange – es war wohl sein erster Supermarktverweis. Erste Buh-Rufe waren von den umstehenden Kunden zu hören, schließlich meldete sich die alte Dame zu Wort: „Ich hab den Buben doch mit Absicht nach vorne gelassen, weil ich doch so viele Sachen habe und er nur ein Snickers.“ Während der Junge mit gesenktem Haupt und dem Snickers in der Hand aus dem Supermarkt trabte, entwickelte sich ein gellendes Pfeifkonzert. Darin mischten sich zahlreiche Beleidigungen wie „Wichser!“ oder „Hurensohn!“ und natürlich wurden Bernard Bodenauer einige Mittelfinger entgegengestreckt. Es war eine kritische Situation und in dem Bestreben, nicht die Kontrolle über das Spiel zu verlieren, verteilte er noch einige Karten und Ermahnungen. Doch nachdem der Kassierer ihm sein Wechselgeld entgegengeschleudert und dabei den Satz „Beehren Sie uns bald wieder, Arschloch!“ gezischt hatte, musste er den Supermarkt fluchtartig verlassen, denn ihm wurden Tomaten, Eier und andere zur Verfügung stehende Lebensmittel hinterhergeworfen. Er nahm sich vor, diesen Vorfall in den Spielberichtsbogen einzutragen. Auf dem Parkplatz angekommen, stand um sein Auto herum eine Gruppe von Leuten, die das Lied „Schiri, wir wissen, wo dein Auto steht“ grölten. Er schob sich durch die pöbelnde Menge, um sein Auto zu begutachten, konnte aber keine Beschädigungen feststellen. „Glaubst du etwa, wir demolieren deine scheiß Karre?“, rief einer der Leute. „Das wäre ja eine Straftat! Wofür hältst du uns eigentlich, du Wichsfresse! Und deine gelbe Karte kannst du dir in den Arsch stecken, das war nie und nimmer vollständiger Reifenumfang!“ Er nahm die gelbe Karte, die ihm in die Hand gedrückt wurde, wieder an sich, stieg in sein Auto und fuhr davon. Während der Fahrt malte er sich, begleitet vom aggressiven Hupen der anderen Autos, die Reaktionen auf seine Entscheidung aus. „Gelb hätte völlig ausgereicht“, hörte er die Experten sagen, „Nach der roten Karte ist Bodenauer das Spiel komplett entglitten! Eine unterirdische Leistung, ein wirklich rabenschwarzer Tag des Schiedsrichters!“

Als Bernard Bodenauer mit den Einkäufen in seine im Erdgeschoss gelegene Wohnung eintrat, hörte er ein leises Stöhnen aus dem Schlafzimmer. War etwa jemand verletzt und musste ausgewechselt werden? Er sprintete ins Schlafzimmer und fand dort seine Frau Sabine zusammen mit seinem besten Freund Heiko vor. Ein klarer Strafstoß. Beherzt pfiff Bernard Bodenauer in seine Pfeife, zückte die gelbe Karte und zeigte sie sowohl seiner Frau Sabine als auch seinem besten Freund Heiko, begleitet von einem strengen Blick. Daraufhin kam seine Frau auf ihn zugestürmt. „Sag mal, Bernard, geht’s noch?“ Sie tippte sich mit dem rechten Zeigefinger auf ihre Schläfe. „Ich ficke mit deinem besten Freund und du zeigst uns beiden nur die gelbe Karte? Das ist ja lächerlich! Da muss man doch Rot sehen!“ Er wollte sie zur Ruhe ermahnen, aber sie war noch nicht fertig. „Und wir haben schon seit Langem eine Affäre, aber du hast es übersehen, Bernard, du hast es einfach übersehen. Heiko hat da nun mal die strengere Linie, er würde so etwas nicht durchgehen lassen. Es tut mir leid, Bernard, aber du hast einfach nicht mehr das nötige… Fingerspitzengefühl.“ Seine Frau Sabine verließ gefolgt von seinem besten Freund Heiko die Wohnung, obwohl er sie nicht des Feldes verwiesen hatte.

In den folgenden Tagen ging Bernard Bodenauer kaum einmal nach draußen. Und wenn er es aus irgendeinem Grund doch tun musste, wurde er immer wieder bepöbelt und in rüdem Ton um seine Beurteilung gebeten. Die Nachbarn sind zu laut? Ey, Schiri! Der Typ hat mir die Vorfahrt genommen? Ey, Schiri! Der Paketbote kommt immer dann, wenn ich nicht daheim bin? Ey, Schiri! Zudem bekam er ständig Anrufe von irgendwelchen Leuten, die ihn mit Sprüchen wie „Glasklarer Elfmeter!“ oder „Der hat schon Gelb!“ anbrüllten und sofort wieder auflegten. All dies veranlasste ihn dazu, sich zu keinem Zeitpunkt zu entspannen, sich zu keinem Zeitpunkt hinzulegen oder gar zu schlafen. Stattdessen tigerte er durch seine Wohnung und beobachtete alle Gegenstände argwöhnisch, ganz so, als könnten sie jederzeit einen folgenschweren Regelverstoß begehen. Nach einigen Tagen des hektischen Umherstreifens und Umsichblickens blieb er schließlich vor dem Küchenfenster stehen und schaute in die Welt hinaus. Der strahlend weiße Himmel hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Nachdem er seinen Blick eine ganze Weile über den Horizont hatte schweifen lassen, stürmte er aus seiner Wohnung, wie einer plötzlichen Eingebung folgend. Nur wenig später stand er auf dem Dach des höchsten Gebäudes der Stadt. Das Spiel befand sich längst in der Nachspielzeit und selbst die war eigentlich schon abgelaufen. Bernard Bodenauer pfiff dreimal in seine schwarze Pfeife und warf sie daraufhin den Abgrund hinunter. Gleiches tat er auch mit seinen schwarzen Schuhen, seinem schwarzen Shirt, seiner schwarzen Hose und seinen schwarzen Stutzen. Als seine blasse Haut zum Vorschein kam, wusste er, dass er nun seine letzte Entscheidung getroffen hatte. Mit etwas Anlauf stürzte sich Bernard Bodenauer kopfüber vom Dach. Wenn er nach unten geschaut hätte, hätte er die entsetzten Blicke der Leute gesehen, die auf dem Erdboden standen. Doch Bernard Bodenauer schaute nicht nach unten. Und selbst wenn, selbst wenn er sie gesehen hätte, hätte ihn das gar nicht interessiert. Ein erhabenes Gefühl breitete sich in ihm aus. „Schwalbe!“, jauchzte er, „Schwalbe! Schwalbe! Schwalbe!“, rief er in die Lüfte hinaus. Und er schwang sich mit seinen Flügeln einem neuen Horizont entgegen.


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